Wembley-Tor, Ampel und raue Sitten

Uwe Morawe
30. Mai 201420:29
Die deutsche Mannschaft ist nach der Pleite im Finale gegen England bedientimago
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Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 8, die WM 1966 in England: Auf der Insel siegt der Gastgeber - in Erinnerung bleibt das Turnier jedoch aufgrund der Erfindung eines wichtigen Hilfsmittels. Und dann war da natürlich noch das Wembley-Tor.

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Bremsenquietschen, Hupgeräusche, die Stirn leicht an der Windschutzscheibe angeschlagen. Ansonsten war nichts passiert. Knappe Kiste. Ken Aston hatte im allerletzten Moment noch die Rote Ampel gesehen an der Kensington High Street, eine der befahrensten Kreuzungen Londons. Vollbremsung, gerade noch rechtzeitig. Beinahe wäre dem wohlerzogenen Engländer ein "Fuck Off" über die Lippen gegangen. Natürlich nur beinah.

Ken Aston war seit seinem Karriereende als FIFA-Referee oberster Schiedsrichterbeobachter bei der WM 1966. In seiner Branche galt er als Tüftler. Schon Ende der 40er Jahre hatte er die Anregung gegeben, die Linienrichter im englischen Profifußball mit grellgelben Fahnen auszustatten. Vorher wedelten die Linesmen kleine dunkle Wimpel der jeweiligen Heimatvereine durch die Luft. Nun mit dem gelben Stoff konnte das Publikum viel schneller erkennen, wenn auf Abseits entschieden worden war. Das machte das Spiel schneller und transparenter. Ähnliches war nun wieder vonnöten. Und genau darüber hatte Ken Aston gegrübelt, als er bei Rot fast über die Kreuzung bretterte.

Untersagter Trikottausch mit Argentinien

Gestern beim Viertelfinale zwischen England und Argentinien hatten sich unwürdige Szenen abgespielt. Auf der Tribüne von Wembley musste Aston mitansehen, wie der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein versuchte, dem Argentinier Antonio Rattin einen Platzverweis auszusprechen. Wegen Beleidigung, obwohl Kreitlein kein Wort Spanisch verstand. Da standen sie nun Brust an Brust. Oder besser, Brust an Hüfte. Kreitlein ein Einmetersechzigmännchen, Rattin ein Schrank von Mann.

Der Gaucho schaute von oben auf die Halbglatze des Unparteiischen und weigerte sich, den Platz zu verlassen. Mit rudernden Armbewegungen versuchte Kreitlein den Spieler hinauszuschicken. Der bewegte sich keinen Zentimeter. Die Szenerie dauerte gut fünf Minuten, bis Polizisten Antonio Rattin vom Feld führten. Nach Ende des Spiels hatte Kreitlein einen Kreislaufkollaps erlitten und Englands Trainer Alf Ramsey seinen Spielern den Triktottausch mit den Argentiniern untersagt. Die Argentinier seinen "Animals", unwürdig ein Jersey mit den drei Löwen zu erhalten, so Ramsey auf der anschließenden Pressekonferenz.

Ähnliches war fast zeitgleich bei der Partie Deutschland gegen Uruguay geschehen. Endlose Diskussionen nach Platzverweisen. Beim Abgang hatte der hinausgestellte Troche Uwe Seeler noch eine schallende Ohrfeige verpasst. Das Problem war, dass die Spieler einen auf doof machen konnten, weil es kein für alle verständliches und sichtbares Signal gab, dass jemand des Feldes verwiesen worden war. "Ich nix verstehe, was du wolle, kleiner Mann in schwarz, äh."

Schiedsrichter voller Angst

Aston kannte sich aus in diesen Angelegenheiten. Schon sein Mentor George Reader hatte ihm erzählt, wie im WM-Finale 1950 der Kapitän Uruguays, Obdulio Varela, den Ball minutenlang nicht herausgerückt hatte. Reader glaubte bis heute an Sprachbarriere und Missverständnis. Aston hatte da seine Zweifel und meinte, Varela habe den gutgläubigen Reader verarscht. Er selber, Kenneth Aston, war zur Lachnummer der Weltfussballs verkommen, als er vor vier Jahren zwischen wildgewordene Chilenen und Italiener geriet.

Das Geräusch wird er ein Leben lang nicht vergessen, das den Faustschlag von Leonel Sanchez begleitete, mit dem er dem Italiener Maschio das Nasenbein brach. Aston hatte zwei Meter daneben gestanden und Sanchez dennoch nicht hinausgestellt. Aus Angst. Purer körperlicher Angst, die Spieler würden ihn krankenhausreif schlagen. Die Bilder vom schreckhaften Schiedsrichter gingen um die Welt. SPOX

Immer wieder waren es die interkontinentalen Duelle, die außer Kontrolle gerieten. Wird in Südamerika oder in Europa der bessere Fußball gespielt? Diese offene Frage führte zu offenen Schienbeinbrüchen. Ungarn-Brasilien 1954, Italien-Chile 1962, die Jagdszenen gegen Pele durch die Bulgaren und Portugiesen in der Vorrunde 1966. Was in der Politik nicht gelingen wollte, war im Fußball ein Phänomen geworden: einzelne Nationen und sogar Vereinsmannschaften sahen sich als Vertreter ihres jeweiligen Kontinents. Und mittendrin hilflose Schiedsrichter, die ihre Entscheidungen den Spielern und dem Publikum nicht deutlich vermitteln konnten.

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Karten und doch ein Rückgang

So, die Ampel schaltete auf Grün. Ken Aston legte den ersten Gang ein, fuhr jedoch nicht los, sondern starrte auf die Ampel. Es machte Klick! Gelb als letzte Warnung, dann Signalfarbe Rot! Die Sprache des Straßenverkehrs war universell, die verstand jeder, die war überall gleich auf der Welt. Es machte Klick! Ken Aston hatte mitten in der Rush Hour Londons die Gelben und Roten Karten erfunden.

Bereits vier Jahre später bei der WM 1970 kamen die Karten zum Einsatz. Im Nachhinein lustig zu sehen, wie Publikum und Spieler vor allem auf die Gelben Karten reagierten. Gelb war damals fast schon Rot - mehr als 2x pro Partie wurde der Karton nie gezückt, da ging ein Raunen durchs weite Rund, jungejunge. Die Einführung der Karten machte die Spiele schneller und flüssiger und sie zeigte tatsächlich therapeutische Wirkung. 1962 waren sechs Spieler vom Platz geflogen, 1966 noch fünf, 1970 sah nur ein einziger Akteur die Rote Karte: der deutsche Masseur Erich Deuser, der vorschnell auf den Platz gelaufen war, obwohl das Spiel noch lief.

Ken Aston wartete später noch mit einer weiteren Neuerung im Schiedsrichterwesen auf. Die Nummerntafeln, die anzeigen, wer ausgewechselt wird, gehen ebenfalls auf ihn zurück.

Was sonst noch wichtig war

  • Erstmals sorgte ein asiatischer Vertreter für Aufsehen. Das 1:0 Nordkoreas gegen Italien gilt als eine der größten Sensationen der WM-Geschichte. Obwohl die Italiener aufgrund einer Verletzung ab der 20.Minute in Unterzahl spielten, hatten sie ein Eckenverhältnis von 19:2 herausgearbeitet, das Tor erzielte jedoch Nordkorea. Im Viertelfinale gegen Portugal reichte dann selbst eine 3:0 Führung nicht zum Weiterkommen.
  • Englands Trainer Sir Alf Ramsey war ein Mann, der aus wenig sehr viel machen konnte. Als Spieler 1950 mit Tottenham in die First Division aufgestiegen, ein Jahr später als Aufsteiger Meister. Als Trainer übernahm er den bis dahin unbedeutenden Drittligisten Ipswich Town. Aufstieg in die Zweite Liga, 1961 ging es hoch in die 1.Liga. Und auch als Coach wurde Ramsey mit dieser Noname-Truppe auf Anhieb Englischer Meister. Weil Ramsey als Rechtsverteidiger nicht eben der schnellste gewesen war - sein letztes Länderspiel war das legendäre 3:6 gegen Ungarn, als im Zoltan Czibor Knoten in die Beine spielte - lag sein Hauptaugenmerk in taktischer Hinsicht auf den Außenpositionen. Ramsey war der erste Trainer, der an den Linien nicht mit vertikalen Flügelflitzern agieren ließ, sondern dort lieber ausgebildete "Achter" einsetzte, die diagonale Laufwege in die Mitte bevorzugten. Dafür spielte er konsequent mit zwei Spitzen auf einer Höhe. Dieses neuartige 4-4-2, bei denen die Außen auch die Mitte mit abdeckten, nannte man "Wingless Wonder". SPOX
  • Das berühmte Wembley-Tor konnte schon deshalb nicht hinter der Linie gewesen sein, weil der Angriff untypisch über außen und mit Flankenball vorgetragen worden war. Alle anderen WM-Treffer der Engländer fielen durch das Spielzentrum.
  • Deutschland hatte einen historischen Umbruch erlebt. Durch die Einführung der Bundesliga reisten die deutschen Spieler erstmals als Profis an. Dazu passte auch der neue Trainer Helmut Schön, der die Mannschaft bei seinen Personalentscheidungen stärker einband als sein Vorgänger Sepp Herberger. Dessen Geist war immer noch spürbar - Herberger hielt engen Kontakt mit dem Trainerstab und tauchte selbst bei Spielen noch in der Kabine auf. Die Mannschaft mit blutjungen Akteuren wie Höttges, Weber, Overath und natürlich Franz Beckenbauer bildete das Fundament für die nächsten Jahre, die sich als die erfolgreichsten des deutschen Fußballs erweisen sollten.
  • Lothar Emmerich war innerhalb der deutschen Elf der große Verlierer dieses Turniers. Vor der Spanien-Partie, in der Emma sein legendäres Tor aus spitzem Winkel erzielte, hatte Herberger zu Schön geunkt: "Wenn Du den bringst, kriegst Du ihn nicht mehr aus der Mannschaft." Emmerich war zwar ein begnadeter Torjäger, der vom linken Flügel immer den direkten Abschluss suchte, jedoch alles andere als ein Kombinationsspieler. Im Finale gegen England stellte Emmerich einen Totalausfall dar - und Spielerwechsel waren damals noch nicht erlaubt. Helmut Schön konnte also taktisch nicht reagieren. Im Gegensatz zu seinem ansonsten großzügigen Wesen blieb der Bundestrainer im Fall Emmerich hart. Der Dortmunder, der zu dieser Zeit in jeder Saison um die 30 Tore erzielte, wurde nie wieder berufen und kam somit auf nur fünf Länderspiele. Erinnert an das Verhältnis von Joachim Löw zu Stefan Kießling....
  • Im Endspiel trafen die technisch vielleicht komplettesten Spieler aller Zeiten aufeinander: Bobby Charlton und Helmut Haller. Nichts gegen Maradona, Messi oder Cruyff. Aber was Beidfüßigkeit angeht, kann mit Haller und Charlton höchstens noch Andreas Brehme mithalten. Sowohl der Helmut aus Augsburg als auch die Legende aus dem Old Trafford traten Ecken und Freistöße je nach Laune mal mit rechts und mal mit links. Haller meist die Ecke von links mit dem linken Fuß, die von rechts mit rechts. Nachmachen bitte!
  • Charlton wurde im Finale von Franz Beckenbauer bewacht. Zwei Superfußballer, die sich komplett neutralisierten. Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, einen anderen Spieler auf Charlton anzusetzen, um Beckenbauer für Offensivaktionen den Rücken freizuhalten. Fatalerweise wiederholte sich Geschichte: als Trainer machte Franz Beckenbauer denselben Schnitzer im WM-Finale 1986. Wolfgang Rolff hatte im Halbfinale eine herausragende Partie geliefert und Michel Platini komplett abgemeldet, doch Beckenbauer traute ihm die Bewachung von Maradona nicht zu. Sprechen Sie Wolfgang Rolff nicht darauf an, sollten Sie ihn mal treffen. Beckenbauer opferte den offensivstarken Lothar Matthäus als Spezialbewacher für Diego - und wie beim Endspiel 1966 fehlten dem deutschen Spiel die dynamischen Antritte aus dem Mittelfeld heraus.
  • Das Wembleytor in der 101.Minute. Der tragischste Aspekt dabei war sicherlich, dass Wolfgang Weber aus dem Instinkt eines Abwehrspielers heraus den Ball zur Ecke klärte. Hätte Weber die Kugel seitlich weggeköpft, wäre der Ball im Spiel geblieben, und Schiedsrichter Dienst wäre bei der Entscheidung "kein Tor" geblieben. So kam Linienrichter Tofik Bachramow ins Spiel. Von dem sind zwei Zitate überliefert: "Natürlich habe auch ich nicht gesehen, dass der Ball hinter der Linie war. Doch aus den Reaktionen der Spieler schloss ich, dass es wohl ein Tor gewesen war." Und später in angetrunken patriotischer Gesinnung in Baku: "Als ich die Fahne hob, dachte ich an alle sowjetischen Gefallenen und das Leid des Zweiten Weltkriegs".

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