WM

1950: Wenn 200.000 Puppen schweigen

SID
Uruguay gewann 1950 die einzige WM, die durch eine Gruppenphase entschieden wurde
© imago
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Die erste Hälfte verlief torlos. Brasilien spielte wie immer zu Hause ganz in Weiß. Doch der Wundersturm Jair/Adhemir/Zihinho kam nicht wie gewohnt zur Geltung, bis zur 47. Minute. Führung der Brasilianer durch Friaca. Ein Jubelsturm, dass es das Hirn wegpustete. Varela revidierte sich, das waren keine Schaufensterpuppen.

Es galt, diese Kulisse wieder zu bändigen. Er, der in seiner gesamten Karriere immer mit offenem Visier gespielt hatte, bediente sich dieses eine Mal eines Hütchenspielertricks. Die feiernden Brasilianer waren bereits Richtung Mittellinie unterwegs, der Ball noch im Tornetz.

Den schnappte sich Varela jetzt. Er ging auf den englischen Schiedsrichter George Reader zu und laberte ihn theatralisch auf Spanisch voll. "Fuera de juego! Fuera de juego!" Seine Annahme war richtig, der Mann verstand kein Wort. Varelas Grundkenntnisse in Englisch hätten für "Offside, Offside!" schon noch gereicht. Darum ging es nicht, denn das Tor war meterweit kein Abseits gewesen.

Varela wird zum Buhmann

Varela rückte den Ball nicht raus, wich keinen Deut von der Stelle, verlangte auf Spanisch einen Dolmetscher. Reader schwankte in seiner Einschätzung. Als seine gestenreiche Drohung, diesen uruguayischen Ochsen vom Platz zu stellen, nicht verfing, machte sich der Unparteiische auf die Suche nach einem Übersetzer. Die Angelegenheit dauerte gut fünf Minuten.

Was? Der Kapitän der Urus hatte doch tatsächlich eine Abseitsstellung sehen wollen? So ein Quatsch, Reader war beruhigt, er hatte definitiv keine Fehlentscheidung begangen.

Beruhigt war auch das Publikum. Wie lange jubelt man ausgelassen über ein Tor? Eine Minute, zwei, maximal drei. Genau das hatte Varela einkalkuliert. Er war jetzt der Buhmann, wurde bei jeder Ballberührung ausgepfiffen. Aber diese Giftigkeit war allemal besser als Euphorie aus 200.000 Kehlen. Uruguay brauchte jetzt zwei Tore zum Titelgewinn und setzte alles auf eine Karte.

Ghiggias großer Moment

Sieh an, sieh an, die Brasilianer begannen zu wackeln. 66. Minute, Ausgleich durch Schiaffino. Und dann die 79. Minute. Rechtsaußen Alcides Ghiggia schießt aufs kurze Eck. 2:1 für Uruguay. Alcides Ghiggia war eigentlich immer nur ein Vorbereiter, Ghiggia hat in seiner gesamten Länderspielkarriere nur vier Tore erzielt. Alle bei der WM 1950, in jedem Spiel genau eins.

Ab da war es ein Kinderspiel, die Partie über die Bühne zu bringen. Die Brasilianer waren bewegungsunfähig wie Eidechsen unter fünf Grad. Der Schlusspfiff, Varela nahm Ghiggia auf die Schulter, hörte kurz die erlösenden Schreie der Kameraden - und sonst nichts. Es war so still, dass man selbst den brasilianischen Hörfunkreporter oben auf der Tribüne verstand. Irgendwie kam ihm diese Stimme sogar bekannt vor. Ansonsten Totenstille.

Nie ist ein WM-Titel im Stadion so wenig bejubelt worden. Die Sieger spendeten den Unterlegenen Trost. Bei der Siegerehrung drückte FIFA-Präsident Jules Rimet den Pokal Varela wortlos in die Hand.

Brasilien trug Trauer. Zwei Menschen waren im Maracana einem Herzinfarkt erlegen, zwei weitere begingen Selbstmord. Die Selecao spielte nie wieder in Weiß. Als 1994 Torwart Barbosa die Nationalmannschaft im Trainingslager besuchen wollte, wurde er von den Trainern Parreira und Zagallo vom Gelände gejagt, weil er angeblich Unglück bringe - 44 Jahre später!

Obdulio Varela war da etwas feinfühliger. Der Weltmeister-Kapitän lud nach seinem Karriereende jedes Jahr die Spieler des Finales von 1950 zu seinem Geburtstag ein: die Uruguayer und die Brasilianer.

Was sonst noch wichtig war

  • Der brasilianische Hörfunkreporter Ary Barroso beendete sofort nach Abpfiff seine Sprecherkarriere und widmete sich nur noch seiner eigentlichen Profession. Er war Sänger, Pianist und Starkomponist der Schlagerwelt von Rio. 1944 hätte er beinahe den Oscar für die beste Filmmusik bekommen. Für die wohl bekannteste Samba aller Zeiten: BRASIIIIL, dadadadadadadadaaaaa...... Wäre so, als hätte Udo Jürgens das WM-Finale 1974 kommentiert.
  • Für Titelverteidiger Italien stand die WM unter einem ungünstigen Stern. Die Meistermannschaft des AC Turin mit zehn aktuellen Nationalspielern war ein Jahr zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Deswegen reiste Italien aus Furcht und Aberglaube als einziges Team aus Europa mit dem Schiff an. Mit ungenügender Logistik. Nach nur drei Tagen waren alle Trainingsbälle im Meer versenkt. Die Überfahrt dauerte insgesamt 15 Tage, und die meisten Spieler kamen mit Übergewicht in Brasilien an. Italien schied nach der Vorrunde aus.

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