Mit Metallstangen und Ketten bedroht: Wie Antonio Conte in seiner Heimatstadt Lecce zum Staatsfeind Nummer eins wurde

Von Gabriel Wonn
Antonio Conte ist in seiner Heimatstadt Lecce nicht gern gesehen.
© getty

Einst waren sie stolz auf ihn, doch wenn Antonio Conte heute nach Hause zurückkehrt, wird er in Lecce bedroht. Wie der Startrainer in seiner Heimat in Ungnade fiel.

Cookie-Einstellungen

Es ist 2008. Der Anlass, zu dem sich eine Gruppe Männer in einem Beach Resort in der Nähe der italienischen Stadt Lecce für ein Fußballspiel trifft, ist ein trauriger. Es ist ein informelles Spiel, das der spätere Welttrainer Antonio Conte für seinen vor wenigen Jahren in Namibia verstorbenen Cousin organisiert hat. Das Schlimme: Dieser Umstand sollte nicht das Traurigste bleiben, was von diesem kleinen Match in Erinnerung bleiben würde.

Denn kurz vor dem Ende der Partie, zu der neben Freundinnen und Freunden auch Familienmitglieder und die Eltern Contes anwesend sind, tauchen drei Autos auf. Ein Dutzend Ultras steigt aus, bewaffnet mit Metallstangen, Ketten und Stöcken. Conte ahnt es bereits: Die alten Geister seiner Heimatstadt haben ihn eingeholt. Zunächst wird der Mann, der nun Trainer des Zweitligisten Bari ist und kurz vor einer Weltkarriere steht, nur bedroht und beschimpft. Nach dem Abpfiff stürmen die Ultras auf ihn zu.

Antonio Conte: Seit 1997 in Lecce in Ungnade gefallen

Das anschließende Handgemenge, in welches sich Außenstehende einmischen, verhindert Schlimmeres. Doch eines weiß Antonio Conte in diesem Moment wieder allzu gut: Er ist und bleibt nicht willkommen in der Gegend um die Stadt, in der er geboren wurde und in der er zu einem Superstar heranwuchs. Zwei Jahre später, als er als Trainer von Siena nach Lecce kommt, wird er mit Gesängen wie "Conte, wir verachten dich" begrüßt. Der Grund dafür liegt zu diesem Zeitpunkt bereits elf Jahre zurück.

Heute ist Conte ein gefeierter Trainer, damals war er vor allem noch als Spieler bekannt. Der Süditaliener war nicht weniger als ein Star, ein Nationalspieler und mehrfacher Serie-A-Gewinner. Müsste Lecce auf einen solchen Sohn der Stadt nicht stolz sein? Nun ja, zunächst ist Lecce stolz.

Der zweikampfstarke Mittelfeldspieler durchläuft die Jugendmannschaften der US Lecce, bis 1991 spielt er dort. Das Team ist zu dieser Zeit eine klassische Fahrstuhl-Mannschaft zwischen erster und zweite Liga. Conte ist 16 Jahre alt, als er das erste Mal in der Serie A aufläuft. Im besagten Jahr 1991 ist er 22, als Juventus anklopft. Ausgerechnet Juventus. Der größte Klub aus dem im Süden so verhassten Norden. Der Klub der reichen Snobs - und der Klub, den Conte seit Kindesbeinen anfeuert. Natürlich zögert er nicht - Conte geht nach Turin.

Bei Juventus wird Conte zum großen Star

Trotz all der politischen Differenzen, die die in Lecce lebenden Süditaliener in ihre Wahrnehmung von Juve einfließen lassen, nimmt es ihm tatsächlich niemand übel. Conte kann ein großer Star werden, das wissen gerade die Lecce-Fans. In seinem letzten Spiel für seinem Heimatklub ist auf einem Banner zu lesen: "Wohin du auch gehst, du wirst immer in unseren Herzen bleiben." Der Teamarzt sagt ihm, dass er es nach zehn Jahren bei der US nun wirklich in den Spitzenfußball geschafft habe. Er sollte Recht behalten: Conte gewinnt den Scudetto fünfmal und jeweils einmal die Europa- und sogar die Champions League.

Was ihn allerdings auch begleitet, sind Verletzungen. 1996 erwischt es ihn in der Champions League gegen Ajax bei einem Zweikampf mit seinem künftigen Mitspieler Edgar Davids. Conte widersetzt sich den Anweisungen der Ärzte und setzt sich in der zweiten Halbzeit dennoch auf die Bank. Er sieht von dort aus seinen größten Triumph, Juventus gewinnt die Trophäe. Doch er verpasst die folgende EM und will auch danach zu viel. Er spielt zu früh wieder für Klub und Land, Folgeverletzungen kommen. Nach einem Jahr voller Rückschläge und verpassten Spielen soll der Start in die Saison 1997/98 seine Wiederauferstehung werden. Zu Gast in Turin: Ausgerechnet die Aufsteiger aus Lecce. Das Spiel wird sein Leben für immer verändern.

Juventus gegen Lecce - und Conte mit denkwürdiger Aktion

Norden gegen Süden, Meisterschaftsfavorit gegen Abstiegskandidat, großer gegen kleiner Klub. Und mittendrin der Junge aus Lecce in den Farben der Bianconeri. Bis zur 83. Minute erkämpft sich der Aufsteiger ein Unentschieden, ehe Flilippo Inzaghi den Bann für Juventus bricht. Lecce ist gebrochen, das Spiel entschieden. Hier könnte die Geschichte enden und niemand würde sich an das Match erinnern.

Doch dann flankt Zinedine Zidane in der 94. Minute in den Sechzehner der geschlagenen Süditaliener. Die Flanke findet denjenigen, der sich zurückkämpfen will. Contes Kopfball schlägt mit voller Wucht im Netz des Aufsteigers ein. Der Junge aus Lecce hebt die Hände und schreit in den Himmel. Er jubelt voller Inbrunst vor den Juve-Fans - und trifft dabei die Fans seines Heimatklubs bis ins Mark. Später wird er sagen, dass sein Verletzungsfrust hinausgeschrien werden musste, dass er so gegen jeden anderen Klub auch gejubelt hätte. Doch Lecce ist nicht irgendeiner von vielen Klubs. Den Fans ist es egal, was er sagt.

Antonio Conte wird in Lecce mit einem Spruchband empfangen.
© getty
Antonio Conte wird in Lecce mit einem Spruchband empfangen.

Conte ist der verlorene Sohn der Stadt Lecce

"Als ich sah, dass Conte jubelte, verstand ich, dass ihm seine Wurzeln nichts bedeuten. Dass er nur in Lecce geboren war", sagt ein Politikwissenschaftler aus der Stadt, der das Spiel live verfolgt hatte, Jahre später. "Ein Schlag ins Gesicht", so fasst ein Fan das Gefühl zusammen, das die Lecce-Anhänger in diesem Moment vereint.

Conte trifft auch 2002 wieder gegen Lecce, diesmal ohne Jubel. Doch es ist zu spät. Er wird nie wieder in seine Heimatstadt kommen können, ohne ausgepfiffen, beschimpft und bedroht zu werden. Heutzutage nimmt in Lecce niemand Anteil an seinen großen Erfolgen als Trainer, niemand schaut die Spiele seiner Mannschaften. Antonio Conte ist zur Symbolfigur geworden: Norden gegen Süden, reich gegen arm, große Fußballwelt gegen Underdog-Rolle. Der verlorene Sohn der Stadt - wohl ohne Aussicht darauf, jemals wieder im Heim seiner Väter willkommen geheißen zu werden.

Artikel und Videos zum Thema