Neue Demut, alte Träume

Von Daniel Reimann
Walter Mazzarri trat bei Inter Mailand die Nachfolge von Andrea Stramaccioni an
© getty

Nach einer Seuchen-Saison hat Inter Mailand die Zeichen der Zeit erkannt. Unter Walter Mazzarri hält eine neue Denkweise Einzug. Der erfolgreiche Auftakt gibt ihm Recht - doch die echten Gradmesser stehen noch aus.

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49 Spiele. Rund 4400 Spielminuten. Exakt 521 Tage. Es war ein Rekord für die Ewigkeit, den Juventus Turin aufgestellt hatte. Jede Woche wurde aufs Neue mitgezählt. Jeden Spieltag wurde die eine Frage aufs Neue gestellt: Wann reißt die schier ewige Serie der Alten Dame?

Seit dem 15. Mai 2011 ging keine Meisterschaftspartie verloren. Dann kam Inter. Am 3. November 2012 eroberten die Nerazzurri das Juventus Stadium. Durch das 3:1 war Juventus' historischer Lauf gebrochen und Inter rückte in der Tabelle wieder bis auf einen Punkt an den ewigen Rivalen heran.

Der geschichtsträchtige Sieg über Juve entfachte eine neue Euphorie in Mailand. Trainer Andrea Stramaccioni sah sich in seinen Meisterschaftsambitionen bestätigt, die Fans träumten wieder vom Titel.

Mourinhos Schatten als Stolperstein

Doch der Rest der Saison wurde für Inter zu einem wahrhaftigen Alptraum: Die Nerazzurri verloren 14 der folgenden 27 Spiele, wurden in der Tabelle bis auf Platz neun durchgereicht und Stramaccioni musste seinen Hut nehmen.

Der so vielversprechend gestartete Coach aus der eigenen Jugend stolperte über das gleiche Problem wie seine Vorgänger Rafael Benitez, Leonardo, Gian Pero Gasperini und Claudio Ranieri: Sie alle standen im Schatten von Jose Mourinho und der Triple-Saison 2009/2010. Sie alle wollten es ihm gleichtun, sie alle wurden an seinen Erfolgen gemessen. Sie alle scheiterten. So auch Stramaccioni, der auch für sich als Saisonziel die Meisterschaft proklamiert ("Ein Verein wie Inter muss immer den Scudetto anvisieren") und mit Pauken und Trompeten verfehlt hatte.

Zurück auf Null

Mit Walter Mazzarri versucht sich mittlerweile schon der sechste Coach seit der Ära Mourinho am Projekt Inter Mailand. Doch es scheint, als wäre Mazzarri der Erste, der die Zeichen der Zeit erkannt hat. Von Beginn an dämpft er die Erwartungen. Anstelle von schnellem Erfolg setzt der neue Trainer auf einen echten Umbruch - und erbittet sich Geduld: "Ich hoffe, jeder versteht, dass wir bei Null anfangen. Das Team befindet sich in einem Verjüngungsprozess und das braucht Zeit."

Tatsächlich hat der Trainerwechsel bei Inter viele neue junge Gesichter nach Mailand gebracht. Mit Mauro Icardi, Ishak Belfodil und Saphir Taider wurden drei der vielversprechendsten Talente der Serie A verpflichtet, Dejan Stankovic (Karrierende) und Antonio Cassano (FC Parma) sind hingegen Geschichte.

Allerdings setzt Mazzarri nicht bedingungslos auf den Nachwuchs. Mit dem 33-jährigen Hugo Campagnaro schleifte er auch diesmal seinen alten Weggefährten mit zum neuen Klub - wie schon anno 2009 bei seinem Wechsel zu Napoli.

Campagnaro ist der wichtigste Faktor für eine der zentralen Baustellen in Mailand: Eine Abwehrreihe formieren, die ihren Namen verdient und ihrem Auftrag gerecht wird. Vergangene Saison kassierte Inter 57 Gegentore. Ein verheerender Wert. Nur das sang- und klanglos abgestiegene Pescara ließ mehr Treffer zu.

Endlich Stabilität

Unter Mazzarri fand die neu besetzte Dreierkette mit Campagnaro, Juan Jesus und Andrea Ranocchia zurück zu alter Stabilität. Die ersten drei Pflichtspiele der noch jungen Saison gewann Inter zu Null. Und auch im Spiel nach vorne ist die Handschrift des neuen Trainers bereits erkennbar.

Das kontinuierliche Pressing und das schnelle, präzise Vertikalspiel, mit dem Neapel unter Mazzarri den Fans bestes Entertainment bot, soll nun auch in Mailand etabliert werden. Die ersten Auftritte gegen Genua (2:0) und Catania (3:0) geben dem Coach Recht.

Die beiden Auftaktsiege dürfen als Indikator dienen, dass die Richtung unter Mazzarri stimmt - mehr jedoch nicht. Denn die echten Gradmesser stehen erst noch an. Im Derby d'Italia gegen Juventus (Sa., 18 Uhr im LIVE-TICKER) wird sich erstmals zeigen, ob Mazzarris neues Inter auch gegen die Großen bestehen kann.

Demut statt Säbelrasseln

Das große Säbelrasseln vergangener Zeiten blieb im Vorfeld allerdings aus. Stattdessen warnte Juve-Keeper Gianluigi Buffon eindringlich davor, die Nerazzurri zu unterschätzen: "Mit einem so großartigen Coach wie Mazzarri und dem Vorteil, dass sie sich voll auf die Liga konzentrieren können, sind sie eine Kraft, mit der man in der Meisterschaft rechnen muss", sagte er dem "Corriere dello Sport".

Im Kampf um den Scudetto hat er Inter auf der Rechnung. Die Mailänder könnten den Titelanwärtern "das Leben sehr schwer machen", ist sich Buffon sicher.

Eine Einschätzung, die man in den letzten Jahren in Mailand nur zu gern geteilt und gepredigt hat. Doch anstelle großer Töne regieren seit der Übernahme von Mazzarri Demut und Bescheidenheit: "Wir sollten nicht länger denken, dass wir die Supermacht von einst sind. Wir sollten uns nichts vormachen", stellte Buffons Gegenüber Samir Handanovic schon vor Saisonbeginn klar.

Doch so ganz will man bei Inter den großen Traum vom Scudetto doch nicht beerdigen. Und so kündigte Campagnaro in aller Vorsicht an: "Wenn jeder tut, was er zu tun hat, dann kannst du mit Mazzarris Fußball allen gefährlich werden - auch Juventus."

Inter Mailand in der Übersicht