Lineker: "Wir haben die ehrlichste Liga der Welt"

Von Raphael Honigstein
Brutalo-Liga oder doch nicht? In England ist eine Premier-League-Diskussion im Gange
© Getty

Nach der üblen Verletzung von Hatem Ben Arfa augrund der Attacke von Nigel de Jong entfacht ein Streit über den englischen Fußball. Wer hat die Nase vorne? Die "Geht in Ordnung"-Fraktion um Gary Lineker? Oder finden die Holländer um Johann Cruyff Gehör? Raphael Honigstein über die beiden Lager.

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Gary Lineker ist ein viel beschäftigter Mann. Jeden Samstagabend präsentiert er als Anchorman von "Match of the Day", der englischen Version der "Sportschau", die Highlights der Premier League für die "BBC". Außerdem tanzt der ehemalige Nationalstürmer aktuell im Auftrag einer englischen Chips-Firma durch den Regen und wirbt als Englands WM-2018-Botschafter kräftig für sein Land.

Spaniens Ausbildungssystem unter der Lupe

Am vergangenen Sonntag war der 49-Jährige darüber hinaus in einer Fernsehdokumentation zu sehen, die den Titel "Can England win the next World Cup?" trug. Um diese keineswegs rhetorisch gemeinte Frage zu beantworten, reiste Lineker nach Spanien. Er nahm das Ausbildungssystem im Land des Weltmeisters unter die Lupe, sprach mit Jose Mourinho und mit Trevor Brooking, dem Nachwuchskoordinator des englischen Verbands. Deutschlands erfolgreiche Verjüngung und taktische Neuausrichtung war auch ein Thema.

In Kalifornien erzählte Jürgen Klinsmann, dass Deutschland ein Land sei, das von Natur aus gerne angreife. "Im vergangenen Jahrhundert haben wir das aber zwei Mal auf die falsche Weise gemacht, hihi!", kicherte der Schwabe. Lineker forderte in seiner Abmoderation eine bessere Ausbildung der englischen Jugendlichen und einen Mentalitätswechsel. "Unsere Spieler müssen zuallererst das Fußballspielen lernen, nicht das Gewinnen", sagte er. Bis dahin ist es wahrscheinlich aber noch ein weiter Weg, wie ausgerechnet die gleich im Anschluss ausgestrahlte Ausgabe von "Match of the Day 2" zeigte.

Nigel de Jongs Mördergrätsche gegen Hatem Ben Arfa (Newcastle United)  - und der daraus resultierende doppelte Beeinbruch des Franzosen  - wurde dort von den Experten Lee Dixon (früher Arsenal) und Alan Hansen (Ex-Liverpool) als "Unfall" entschuldigt. Schon am Nachmittag hatten im Fernsehstudio von "ESPN" die Experten Kevin Keegan und Nicky Butt De Jongs (vom Schiedsrichter nicht beanstandete) Attacke trotz mehrmaliger Nachfrage als "absolut ok" bezeichnet."De Jong spielt den Ball und lässt den Gegner danach wissen, dass er da ist", sagte Keegan wörtlich. "Kein Problem". Wie in solchen Fällen üblich wurde dem Übeltäter reflexartig "keine böse Absicht" unterstellt.

"Unser Problem sind Grätschen"

Das sahen auf der Insel einige aber doch anders. "Selbsterklärte harte Jungs, die voll durchziehen, um beim Gegner entweder psychologische oder physische Spuren zu hinterlassen, vergessen, dass sie für das Wohl ihrer Profi-Kollegen mitverantwortlich sind", schrieb Ex-FIFA-Schiedsrichter Graham Poll in einer Kolumne.

"Wer wie (Stoke-City-Trainer) Tony Pulis denkt, dass Schwalben der größte Fluch unserer Tage sind, irrt sich", sagt Martin Samuel, der Fußball-Chefkorrespondent der "Daily Mail". "Unser wirkliches Problem sind (gemeingefährliche) Grätschen und eine Regelauslegung, die diese zulassen. Ben Arfa  reiht sich zusammen mit Eduardo, Abou Diaby und Aaron Ramsey (alle Arsenal) in die Liste derer ein, die in den vergangenen Jahren in der Premier League schwere Verletzungen nach Fouls davon getragen haben.

Das Spiel ist durch die verbesserte Fitness der Akteure noch schneller geworden, doch viele Raubeine tragen dem hohen Tempo keine Rechnung und holzen weiter grob fahrlässig die Gegner um. Nur durch ein Wunder entkam am Sonntag Jordi Gomez (Wigan) nach einem Horror-Tackle von Wolverhamptons Karl Henry unversehrt, Moussa Dembele (Fulham) hatte nach der versuchten Körperverletzung von Andy Wilikinson (Stoke) im Ligapokal ebenfalls Glück. Wilkinson sah dafür unerklärlicherweise nur Gelb.

Neue Eigentümer mit neuen Sitten

"In England gelten wohl andere Maßstäbe", wunderte sich Bondscoach Bert van Marwijk. Angesichts De Jongs in Holland allgemein als "kriminell" eingestufter Aktion wurde der ehemalige Hamburger nicht in die Nationalmannschaft berufen. "Er ist eindeutig zu weit gegangen", sagte Johan Cruyff zu dem Fall.

So viel gesunden Menschenverstand würde man Lineker auch zutrauen. Doch der Fernsehmann schien überhaupt nicht zu wissen, dass De Jongs Einstieg kontrovers diskutiert wird. "Gewalt im englischen Fußball? De Jong ist doch Holländer", sagte Lineker im Interview mit Premier-League-Inside am Rande der "Leaders in Football"-Konferenz in London am Mittwochnachmittag.

"Englischer Fußball ist nicht gewalttätig, das war er noch nie. Im Gegenteil: wir haben die ehrlichste Liga der Welt. Die Spieler hier sind fairer als woanders. Englische Spieler tendieren nicht zu Schwalben und sie wollen den Gegnern nicht vorsätzlich weh tun. Natürlich gibt es die eine oder andere schlecht getimte Grätsche, aber das hängt damit zusammen, dass der Fußball hier so körperbetont ist." So kann man natürlich ein Problem auch lösen - indem man einfach so tut, als ob es nicht existiert.

Lineker & Friends Steinzeit-Gurus?

Man könnte Lineker und seine Freunde als abgehalfterte Steinzeit-Gurus abtun, die noch nicht ganz mitbekommen haben, dass man auch für "übertriebene Härte"  vom Platz fliegen kann, wenn der Ball dabei in der Nähe war. Leider haben aber genau diese Leute die Kommunikationsherrschaft auf der Insel.

Sie schaffen mit ihren anachronistischen Einschätzungen ein Klima, in dem sich die De Jongs dieser Welt wohl fühlen und Schiedsrichter wie der WM-Finalist Howard Webb Angst haben, als übereifrig da zu stehen. Da lässt man im Zweifel lieber weiterspielen bzw weiterfoulen. "Webb war der beste Mann auf dem Platz", schrieb der "Daily Express" nach dem Endspiel in Johannesburg, ohne jede Ironie.

Und so werden auch in Zukunft die technisch begabteren Spieler in der Prem kräftig auf die Socken bekommen.  Und in den Amateur- und Jugendligen wird man sich daran ein Beispiel nehmen und ebenfalls "ehrlich und fair" hinlangen.

Weil man Spiele ja am besten gewinnt, wenn man den besten Mann des Gegners aus der Partie nimmt, egal mit welchen Mitteln. Und es wird sich nichts ändern, und Gary Lineker braucht sich keine Sorgen um seinen Job machen: Programme wie "Kann England die nächste WM gewinnen?" werden noch ein paar Jahrzehnte lang gebraucht.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.