Manchester United und Ralf Rangnick: Das größte Experiment des Welt-Fußballs

Von Stefan Rommel
Ralf Rangnick, Manchester United, Cristiano Ronaldo
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Ralf Rangnick hat sich die spektakulärste Herausforderung seiner Karriere aufgebürdet. Aber passt Manchester United überhaupt zu seiner Idee vom Fußball? Kann er sich mit Superstars wie Cristiano Ronaldo vertragen? Den ersten Sieg im ersten Spiel erlebte er nach nur wenigen Stunden Training. Das Champions-League-Spiel gegen Young Boys Bern wird das erste, in dem Rangnicks Ideen sichtbar werden könnten. Ab jetzt gilt's.

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Ralf Rangnick gilt als einer der Ur-Väter des Pressing-und-Gegenpressing-Fußballs in Deutschland.

Zusammen mit seinem Mentor Helmut Groß hat er sich von Arrigo Sacchi und Waleri Lobanowski inspirieren lassen, dann deren Ideen mit seiner Vorstellung vom Fußball verschmelzen lassen und dann die großen Projekte in Deutschland in Angriff genommen: Aus dem Dorfklub TSG Hoffenheim einen stabilen Bundesligisten und vielleicht sogar Anwärter auf die Meisterschaft zu machen.

Und aus dem verdorrten Standort Leipzig einen prosperierenden Klub zu bauen, der es mit dem FC Bayern und Borussia Dortmund aufnehmen kann. Und beides ist Rangnick - herausragend alimentiert von potenten Geldgebern - zu großen Teilen gelungen.

Aber jetzt ist die große Aufgabe nicht mehr die Entwicklungsarbeit in der Diaspora. Jetzt hat Rangnick einen der größten Klubs der Welt übernommen und qua des englischen Manager-Modells, das Trainer und Sportdirektor in einer Person vereint, ist er nun die eine sportliche Instanz bei den Red Devils. Allerdings drängt die Zeit und United ist - auch nach dem 1:0 gegen Crystal Palace am Wochenende - als Sechster der Tabelle fünf Plätze und elf Punkte entfernt vom eigentlichen Selbstverständnis des Klubs.

Ralf Rangnick hat für dieses Projekt nicht die Muße früherer Tage, er wird sofort maximalen Druck spüren und eine Mannschaft vorfinden, die nicht aus jungen, entwicklungsfähigen Spielern besteht, die voll aufnahmefähig und wissbegierig sind und die er - noch viel wichtiger - selbst ausgesucht hat. Er ist in der Kabine auf eine ganze Reihe fertige Spieler getroffen: David de Gea, Raphael Varane, Harry Maguire, Juan Mata, Paul Pogba, Edinson Cavani, Cristiano Ronaldo. Champions-League-Sieger, Weltmeister, Weltfußballer, Diven.

Rangnick bei United: Und plötzlich presst sogar Ronaldo

United ist kein Käufer-und-Verkäufer-Klub wie es Hoffenheim oder alle Klubs des Red-Bull-Kosmos waren, dem Rangnick auch mehrere Jahre als globaler Sportdirektor vorstand. United ist ein Käufer-Klub, eine der Endhaltestellen für Spieler. Dementsprechend ist das Selbstverständnis und auch das Selbstbewusstsein der Spieler.

Bei Twitter kursierte nach Rangnicks Ernennung ein Witz: "Endlich wird Cristiano Ronaldo erfahren, wie man richtig Fußball spielt." Das war natürlich zugespitzt und zielte auf den einen Superstar unter den Stars ab. Aber die Stoßrichtung war klar: Wie viel lassen sich Spieler, die schon alles gewonnen haben, von einem Trainer sagen, der international bisher eher in Nebenrollen aktiv war, der keine Spielerkarriere vorweisen kann und keine Titel?

Der Anfang ist vielversprechend. Fakt ist: Ronaldo, der sich im bisherigen Saisonverlauf eher pressingfaul präsentiert hatte, eroberte gegen Crystal Palace so oft den Ball im letzten Drittel wie in den elf Premier-League-Spielen zuvor insgesamt.

Die United-Fans erwarten, dass Rangnick "so ein Typ wie der von Liverpool" wird, wie neulich irgendwo zu hören war. Es dürfte aber bald auffallen, dass Rangnick und Jürgen Klopp in ihren Fußballansichten zwar noch recht viel gemeinsam haben, im Umgang mit den Spielern, den Fans und auch den Medien werden sich aber schon bald klare Unterscheide zeigen. Aber das scheint für die ersten Momente - und Rangnick soll ja nur für rund sechs Monate als Trainer fungieren - eher zweitrangig. Aber was kann Rangnick United bringen?

Rangnicks Erfolgsrezept: Konzept, Kompetenz und Kapital

Manchester United hat seit dem Weggang von Sir Alex Ferguson einige ziemlich wirre Entscheidungen getroffen bei der Trainersuche: Auf den farblosen David Moyes folgten nach einem kurzen Engagement von Klub-Ikone Ryan Giggs in Louis van Gaal und Jose Mourinho zwei Paradiesvögel des Fußball-Zirkus - die dann wieder von einer Klub-Ikone abgelöst wurden.

Ole Gunnar Solskjaer irrlichterte nun aber fast drei Jahre ohne erkennbaren Plan durch die Wettbewerbe und man muss wohl konstatieren, dass auch das drei verlorene Jahre waren. Insofern sind sie froh, mit Rangnick nun zwar keine Klub-Ikone, dafür aber einen ausgewiesenen Fachmann engagiert zu haben. Der dieser Mannschaft mit ihrer unverschämten individuellen Klasse nun endlich so etwas wie einen Plan an die Hand geben soll.

Das liest sich in der Theorie zunächst mal wie eine pefekte Symbiose. Aber wie immer wird erst der Praxistest zeigen, ob das auch alles zusammenpasst: Rangnick und seine spezielle Idee vom Fußball auf der einen und die United-Stars und -Sternchen auf der anderen Seite bei einem Klub, der seit der Übernahme durch die Glazer-Familie mehr denn je auf Entertainment und reines Profitdenken getrimmt ist.

Umso spannender wird es sein zu beobachten, wie schnell Rangnick die Mannschaft auf einen anderen Fußball einschwören kann und wie viel von seinen Ideen sich bei United überhaupt umsetzen lassen. "Erfolg hängt an drei Ks: Konzept, Kompetenz und Kapital. Kapital ist schnell mal vorhanden, meistens scheitert es an den anderen zwei", hat Rangnick vor ein paar Monaten dem Red Bull Bulletin erzählt. Am Kapital mangelt es in Manchester tatsächlich nicht, und für Konzept und Kompetenz ist er selbst verantwortlich.

Will Rangnick wieder das 4-2-2-2 - und passt das überhaupt?

Die herausstechenden Kernkompetenzen des Rangnick-Fußballs sind klar: Aktivität, Aggressivität, Laufbereitschaft, ständiger Balldruck, Direktheit in allen Spielphasen. Druckvolles Pressing und aggressives Gegenpressing sind die Eckpfeiler im Spiel gegen den Ball. Größtmögliche Tiefe, schnelle Umschaltmomente, Vertikalität um jeden Preis dominieren den eigenen Ballbesitz. Dazwischen gibt es natürlich auch genug Nuancen, Rangnick nun nur auf hektischen Rumpelfußball kleinzureden, wäre falsch.

Aber wie die bisher eher dröge United-Spielidee mit der von Rangnick zu vereinbaren ist: Das wird die größte aller Herausforderungen für den neuen Trainer. Vorgänger Solskjaer ließ in der Regel mit Viererkette, zwei Sechsern, einem Zehner davor und nur einem echten Angreifer spielen. Gegen Crystal Palace schickte er seine Mannschaft nach nur wenigen Stunden gemeinsamen Trainings in einer 4-4-2-Grundordnung mit flachem Mittelfeldzentrum aufs Feld. Das klassischste aller englischen Systeme - für den Übergang, bis Rangnick seine Ideen vermitteln konnte?

Viererkette und zwei Sechser zur Zentrumsicherung gehörten bisher fast immer zur Rangnick-Doktrin. Bei Red Bull "erfand" Rangnick aber die etwas gewöhnungsbedürftige Anordnung der beiden offensiveren Mittelfeldspieler. In Salzburg und in Leipzig wurde von mehreren Trainern mit der Rangnick-Idee vom 4-2-2-2 gespielt, mit zwei Zehnern hinter zwei klaren Spitzen.

Die Effekte dieser Anordnung zielen voll ab auf eine energetische Balljagd, auf die Kontrolle des Zentrums, auf hohe, intensive Anlaufphasen, auf die klassischen Überladungen auf den Flügeln und so viele Spieler wie möglich in unmittelbarer Ballnähe. Rangnick-Mannschaften lenken im Pressing nicht wie andere Teams oder verschieben geduldig, um auf einen günstigen Moment zu warten. Rangnick-Mannschaften laufen frontal an und warten nicht besonders lange oder bauen komplexe Pressing-Auslöser ein. Es genügt schon der klassische Pass vom Innen- zum Außenverteidiger, um die Maschine in Gang zu setzen.

Vor der Viererkette baut sich mit den beiden Angreifern und den vier Mittelfeldspielern ein Sechseck auf, das das Zentrum schließt und damit kontrolliert, sich immer am Ball orientiert und dann so viele Spieler wie möglich in Ballnähe bringt, sobald der Trigger ausgelöst ist. Dafür muss aber die letzte Linie auch hoch genug aufrücken, um den Zwischenraum dahinter so klein wie möglich zu halten.

Ralf Rangnick ist jetzt der Chef von Cristiano Ronaldo.
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Ralf Rangnick ist jetzt der Chef von Cristiano Ronaldo.

Rangnicks Fußball fordert Risiko ein - das United zuletzt vermied

Alle diese Elemente stehen nun aber im teilweise krassen Gegensatz zu dem, was United zuletzt so als Spielidee verkaufen wollte. Das Pressing war zusammenhanglos und wenig intensiv. Es nehmen sich immer wieder einzelne Spieler raus, arbeiten wie etwa Ronaldo nicht engagiert mit, lassen die Drecksarbeit andere verrichten und lauern stattdessen auf ein schnelles Zuspiel nach einem Ballgewinn. Diese Hopp-oder-Topp-Mentalität, das Zocken auf einen günstigen Moment zu Lasten des Gesamtkontrukts, wird Rangnick aber kaum zulassen.

Er wird stattdessen einen Spieler wie Harry Maguire anweisen, weiter rauszurücken. Maguire ist in gewissen Phasen ein Prototyp der alten Verteidigerschule, der gerne tiefer steht, das Spiel weiter vor sich behält, der lieber fällt als aggressiv auf den Ball herauszurücken und sich damit in einer Schein-Kontrolle in Sicherheit wiegt. Dass der Raum unmittelbar vor der Abwehrkette damit aber zu einem veritablen Problem wird und United dann immer größte Probleme bekam, von Liverpool oder ManCity förmlich in Stücke gerissen wurde, weil der eine Teil der Mannschaft ins Pressing ging und der andere zeitgleich tief zurückfiel: Das wird Rangnick in der Art in Zukunft nicht mehr zulassen.

Rangnick und United: Es bleiben jede Menge Fragezeichen

Und er wird seinen Spieler den sinnlosen Ballbesitz in ungefährlichen Zonen austreiben. Der Ballbesitz als solcher kann allenfalls ein Mittel zum Zweck sein, Rangnick verfolgt kein ausgeprägtes und auf das Bewegen des gegnerischen Abwehrverbunds ausgelegtes System und er verzichtet auch auf ausgiebige Positionsrochaden. Ballgewinne in hohen Spielzonen sind stattdessen das höchste aller Ziele. Und dann darf es auch riskant in die Tiefe gehen: Schnelle, flache Ein-Kontakt-Kombinationen sind in der Regel nur im Angriffsdrittel gerne gesehen.

Und so wird diese halbe Saison mit Ralf Rangnick an der Seitenlinie für Manchester United auch zu einem sehr großen Experiment mit jeder Menge Fragezeichen. Wie gut passen Spieler wie Ronaldo, Bruno Fernandes und Harry Maguire zum Pressing-Stil des Trainers? Kann Rangnick die Kabine hinter sich bringen? Ist die Mannschaft gewillt, sich auf eine völlig neue Art des Fußballs einzulassen - propagiert von einem Trainer, der ohnehin nur ein halbes Jahr in der Verantwortung stehen wird? Wie weit gehen Rangnicks sportliche Kompetenzen tatsächlich und bekommt er die Doppel- und Dreifachbelastung als Trainer, Sportchef und Kaderplaner für die kommende Saison unter einen Hut?

Das ist jede Menge Holz für einen, der vor ein paar Wochen noch fest davon überzeugt war, nicht mehr als Trainer arbeiten zu wollen. Ralf Rangnick hat sich definitiv die größte Herausforderung seiner Karriere aufgebürdet.

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