Zwischen Trauer und Wut

Von Aus Liverpool berichtet Christoph Köchy
Steven Gerrard (l.) verlor bei der Hillsborough-Katastrophe seinen Cousin Jon-Paul
© Getty

Es war am 15. April 1989 als der FC Liverpool auf Nottingham Forrest traf. Viel zu viele Fans waren in dem viel zu kleinen Hillsborough-Stadion in Sheffield. Kurz nach dem Anpfiff brach Massenpanik aus, in der 94 Liverpool-Fans sofort umkamen und zwei später ihren Verletzungen erlagen. 20 Jahre danach trafen sich tausende Anhänger an der Anfield Road zur Erinnerung an die Opfer. Für SPOX war Christoph Köchy in Liverpool.

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20 Jahre Hillsborough - eine Stadt trauert

Eine gespenstische Stille umgibt mich, als ich die Anfield Road erreiche. Es ist der 15. April 2009. Vor genau 20 Jahren kamen in Sheffield 96 Menschen ums Leben, die an einem sonnigen Tag ein Fußballspiel anschauen wollten.

An Spieltagen gleicht die Anfield Road einem Ameisenhaufen. Tausende rennen durcheinander, nur scheinbar ziellos, denn alle verfolgen einen gemeinsamen Plan: Die bedingungslose Unterstützung des Liverpool Football Clubs. Heute bewegen sich die Menschen ruhiger, ein bisschen wie auf Schienen streben sie in Richtung der Eingänge.

Eine ganze Stadt steht still

Die Vorfreude, welche sonst beim Emporklimmen der Stufen im Inneren des Stadions zu spüren ist, weicht heute Beklemmung. Ich nehme Platz auf der wohl berühmtesten Tribüne der Welt, "The Kop".

Im Anschluss an die feierliche Verlesung der Namen der Opfer steht eine ganze Stadt still. Um 15.06 Uhr, dem Zeitpunkt, an dem das Spiel in Sheffield abgebrochen wurde, schweigen die Menschen in Anfield, der öffentliche Verkehr ruht, die Kathedralen läuten 96 Mal.

Nach der Stille klatschen die Menschen, genießen die gegenseitige Nähe, das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Liverpool FC ist nicht irgendein Verein. Er ist hier in der von Arbeitslosigkeit gebeutelten Stadt eine Familie, die jeden aufnimmt, der das rote Shirt mit dem Liverbird auf der Brust verehrt. Innerhalb dieser Familie ist es selbstverständlich, sich in schweren Tagen zur Seite zu stehen.

Niemand hat bis heute Verantwortung übernommen

Trevor Hicks, Präsident der Hillsborough Family Support Group, führt durch die Zeremonie. Er verlor zwei Töchter in Sheffield, sie waren 15 und 19 Jahre alt. Hicks ist überwältigt von der Anzahl der Menschen, die heute für ihn und die Angehörigen der weiteren Opfer gekommen sind.

Er hat jahrelang für Gerechtigkeit gekämpft, denn es gibt etwas, das die Katastrophe für die Angehörigen nach wie vor unerträglich macht. Niemand hat bis zum heutigen Tag die Verantwortung für das übernommen, was in der Leppings Lane geschah.

Polizei beschuldigt Fans, Fans beschuldigen Polizei

Überlebende haben in der Vergangenheit vielfach vom Fehlverhalten der Polizei berichtet, allein eine Verurteilung folgte nie. Im Gegenteil, vielfach wurde von der Polizei angemerkt, Liverpool-Fans seien betrunken gewesen und trügen demnach eine Mitschuld.

Noch schlimmere Anschuldigungen veröffentlichte "The Sun", Redakteur Kelvin MacKenzie schrieb, Fans hätten ein totes Mädchen missbraucht, auf Tote uriniert und Polizisten zusammengeschlagen.

Nie wurden diese Fälle von irgendjemandem bestätigt, die Zeitung entschuldigte sich später für den "größten Fehler in ihrer Geschichte". MacKenzie entschuldigte sich ebenfalls, zog diese aber später zurück, da er nur dem Drängen von Eigentümer Rupert Murdoch nachgegeben habe.

"Don't buy the Sun" heißt es seither in Liverpool, kaum einer der Zeitungshändler verkauft das Blatt noch, die Zahl der Abonnenten in Merseyside ist unter ferner liefen.

Liverpool-Fans wollen Gerechtigkeit

Für eine schonungslose Aufklärung der Umstände kämpfen viele Menschen in Liverpool, doch fehlt die Unterstützung durch die Regierung. Minister Andy Burnham muss an diesem Nachmittag seine Rede unterbrechen, die Massen skandieren "Justice for the 96". Die Stimmung scheint zu kippen, Trauer weicht Wut.

Positive Energie ist erst wieder zu spüren als Steven Gerrard den Platz betritt. Gerrard ist nicht nur Kapitän der Reds, er ist auch einer der direkt Betroffenen. Sein Cousin Jon-Paul Gilhooley kam in Sheffield ums Leben.

Steven Gerrard spielt für seinen Cousin

Jon-Paul ist das jüngste Opfer, mit zehn Jahren nur wenig älter als Steven. Sein Tod, schreibt Gerrard in seiner Autobiographie, hat ihn zu dem Fußballer gemacht, der er heute ist. Er ist sein Ansporn, seine Motivation. Er spielt für Jon-Paul.

Der Abschluss der Zeremonie ist ergreifend. Gerry Marsden stimmt "You'll Never Walk Alone" an und mit ihm singen 30.000 Menschen. Arm in Arm, die Schals nach vorne gestreckt. 96 rote Luftballons schweben in den Himmel.

So viel Zuneigung liegt in der Luft, es fühlt sich an wie eine liebevolle Umarmung, die den Angehörigen das zeigt, was Hicks ausspricht: "Immer noch zusammen, immer noch entschlossen, immer noch überzeugt, dass die Wahrheit über die Lüge siegen wird."