Spiel des Jahrhunderts: Deutschland vs. Italien 1970 - "Jupp, sag mir Bescheid, wenn ich nach vorne gehen darf"

Von Udo Muras
Das WM-Halbfinale 1970 zwischen Deutschland und Italien ging als Jahrhundertspiel in die Geschichte ein.
© imago images / Sven Simon

Heute vor 50 Jahren traf Deutschland im WM-Halbfinale 1970 in Mexiko auf Italien. Die Zuschauer im Aztekenstadion sollten eines der dramatischsten Spiele aller Zeiten erleben. Ein Jahrhundertspiel. Italien gewann am Ende 4:3 nach Verlängerung, aber die Geschichte von Karl-Heinz Schnellingers Tor bleibt bis heute unvergessen.
 

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Halbzeit im Aztekenstadion. Noch ist nichts verloren. Die Spieler kauern auf ihren Bänken, trinken aus ihren Pullen. Der Masseur massiert ihre Waden, der Bundestrainer schaut schweigend in die Runde. Es ist die Stille der Erwartung auf ein doch noch gutes Ende. Unbemerkt vom Bundestrainer wird ein Geheimabkommen getroffen. Wenn man so will, wird Helmut Schön regelrecht hintergangen an jenem 17. Juni 1970. Aber die Heimlichtuer wollen ihm nicht wirklich schaden.

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Jupp Derwall, sein Assistent, und Karl-Heinz Schnellinger, sein Abwehrchef, wollen nur das Beste. Für die Mannschaft, für Deutschland. Sie planen in diesem Moment das Tor, das in die Geschichtsbücher eingeht. Schnellinger ist zwar seit acht Jahren "Italiener", aber er und Derwall kennen sich noch aus Oberliga-Zeiten, als sie sich in Spielen zwischen Köln und Düsseldorf begegnet sind. Und sie schätzen sich.

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Helmut Schön fragte: "Mit wem telefonierst du denn da?"

So wendet sich Schnellinger mit seinem Anliegen nicht an den Chef, sondern an den Co-Trainer - im Flüsterton: "Jupp, sag mir Bescheid, wenn ich nach vorne gehen darf." Es ist noch nicht die Zeit der mündigen Spieler, und "damals gingen Verteidiger selten über die Mittellinie", wie Schnellinger noch 2005 der Sport Bild erzählte. Aber dieses Spiel des Jahrhunderts setzt nicht nur Maßstäbe für die Ewigkeit, sondern auch ungeahnte Kräfte frei und verletzt ungeschriebene Regeln.

Auch die, dass von "Carlo", wie ihn die Italiener rufen, nichts weniger zu erwarten ist als ein Tor. Zum 45. Mal läuft er an diesem Tag für Deutschland auf, nie hat sich sein Name in der Torschützenliste gefunden und in den folgenden beiden Partien wird er sich auch nicht mehr finden. Nun aber fällt es, das Tor seines Lebens.

In Minute 92, als eigentlich alles schon zu spät ist, schaut er zunächst auf die Stadionuhr, entdeckt "mit Bestürzung, dass der Zeiger auf Null, also auf Spielende steht", schaut dann rüber zu Derwall. Der, so lesen wir in seiner Biografie, gibt nun endlich das "Go" für das Tor, das das Spiel erst zu dem des Jahrhunderts macht: "Ich war zwar nicht der Bundestrainer, aber als es am Ende der regulären Spielzeit Schnellinger nicht mehr hinten hielt und er zu mir schaute, habe ich einfach genickt und kurz mit der Hand ein deutliches Zeichen gegeben. Helmut Schön bekam das mit und fragte auf seine typische Art: 'Mit wem telefonierst du denn da?'"

Sekunden später weiß er es, mit langem Bein drückt Schnellinger, der sich noch wundert "dass mein Freund Rivera stehenblieb", den von Jürgen Grabowski geflankten Ball über die Linie.

"Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen"

Während Ernst Huberty seinen legendären Satz ausruft - "Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen" - rechnet sich ein Italiener auf der Tribüne aus, was das wohl für Folgen haben wird. Nereo Rocco, Schnellingers Trainer beim AC Mailand, fragt seinen Präsidenten Franco Carro besorgt: "Was machen wir jetzt nur mit Schnellinger?" Sie befürchten Hasstiraden gegen den "Verräter", aber die kommen nicht. Allein schon, weil Italien doch noch gewinnt. Schnellinger sagt im Rückblick: "Ich habe in Italien niemals Antipathien wegen des Tores zu spüren bekommen. Vielmehr gewann ich Respekt für meine Leistung, meine professionelle Seriosität."

Und was ruft der italienische TV-Reporter? »Grabowski riesce effetuare il cross« - entsetztes Schweigen - »ed è il pareggio di Schnellinger. A due minuti!« Die Übersetzung: "Grabowski bringt die Flanke durch" - "Und es ist der Ausgleich, durch Schnellinger.". Wenn Italiener ernüchtert sind, könnten sie glatt Deutsche sein.

Aber ist das wirklich der Ausgleich? Im Moment des Glücks, als ganz Deutschland - wo man schon den 18. Juni schreibt - um kurz vor 1 Uhr ein einziger Torschrei ist, unkt der Schütze: "Jetzt kommt der Abseitspfiff!" So gesteht er es der Bild-Zeitung nach dem Spiel, erscheint es ihm doch sehr merkwürdig, im Fünfmeterraum derart frei zum Schuss gekommen zu sein.

Außerdem ist vom Schiedsrichter nichts Gutes zu erwarten an diesem Tag. Aber der Pfiff des vorher und hinterher viel gescholtenen Arturo Yamasaki kommt nicht, was kommt, ist vielmehr das Fußball-Drama des Jahrhunderts. Dank - ausgerechnet - Schnellinger. Und Jupp Derwall.

Karl-Heinz Schnellinger: "Mein Kopf war im Augenblick des Glücks ganz leer"

Beim Schützen löst der einmalige Moment seltsam wenig Emotionen aus: "Mein Kopf war im Augenblick des Glücks ganz leer. Bis auf eines: Jetzt müssen wir es packen! Was jedoch mein Tor angeht, an dem hatte Grabowski größeren Anteil als ich." Aber auf ewig wird man es mit ihm in Verbindung bringen. Mehr als das Wembley-Finale, in dem er auch stand, mehr als drei Europacupsiege mit Milan, mehr als der Weltpokalsieg 1969, seine Meisterschaft mit Köln und seine Kür zum Fußballer des Jahres (jeweils 1962).

"Das Tor war ein Geschenk von oben. Sonst hätte man mich längst vergessen", sagt er noch an seinem 80. Geburtstag, den er 2019 bei bester Gesundheit in seiner Wahlheimat feiert. Carlo ist längst ein "Italiener" geworden, trotz eines Tores gegen Italien.

Das hat übrigens auch für einen kleinen Jungen Folgen: Auf der Tribüne des Aztekenstadions sitzt 1970 Schnellingers in den USA lebende Schwester Irene mit ihren drei Kindern. Dem Jüngsten, Steven, will sie eigentlich gerade das Nägelkauen abgewöhnen. Als Prämie dafür winken ihm zehn Dollar.

Doch das Tor seines Onkels sabotiert die mütterliche Erziehungsmaßnahme. Nun wird es erst so richtig spannend, weshalb Steven sich zu seiner Mutter umdreht und ihr sagt: "Mama, ich will die zehn Dollar nicht mehr." Lieber kaut er noch ein bisschen an seinen Nägeln. Ein Tor, das Geschichte schreibt, erzählt eben nicht nur eine.