Kevin Schindler galt einst als Bremer Nachwuchshoffnung, spielte in der U-Nationalmannschaft gemeinsam mit etlichen späteren Weltmeistern. Sesshaft wurde er während seiner Karriere nur selten, erlebte teils kuriose Abenteuer am anderen Ende der Welt. Mittlerweile arbeitet er - dank eines Zufalls - als Co-Trainer auf den Faröer Inseln - SPOX und Goal erzählt er seine Geschichte.
Hugo Almeida verlieh seiner Dankbarkeit Nachdruck, indem er gleich beide Arme ausstreckte und beide Zeigefinger auf den heranstürmenden Hünen mit den kurzen blonden Haaren richtete. Akustisch untermalt wurde die Szenerie von einem lauten Dröhnen, das Dröhnen eines Nebelhorns. Werder Bremen war soeben im Rückspiel des UEFA-Cup-Achtelfinals vor heimischer Kulisse gegen Celta Vigo in Führung gegangen.
Nachdem der Stadionsprecher Torschütze Almeida abgefeiert hatte, zollte er auch dem Vorlagengeber über die Lautsprecher Respekt: Kevin Schindler, der erst wenige Minuten zuvor eingewechselt worden war und erstmals überhaupt für die SVW-Profis auf dem Platz stand, hatte den wichtigen Treffer mit einer punktgenauen Flanke eingeleitet. "Ich wurde damals ins kalte Wasser geworfen, im positiven Sinne", erinnert er sich 13 Jahre danach im Gespräch mit SPOX und Goal. "Die erste Halbzeit gegen Celta Vigo lief nicht so gut. Als der Trainer zu mir sagte: 'Kevin, mach Dich warm', gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Nervosität war auf jeden Fall da. Aber am Ende haben wir 2:0 gewonnen, das war ein genialer Abend."
Ein genialer Abend, der in vielen Werder-Anhängern die Hoffnung nährte, dass Schindler, das verheißungsvolle Eigengewächs, sich für höhere Aufgaben empfohlen hatte, vielleicht sogar langfristig für Freude am Osterdeich sorgen könnte. Es kam anders. Nach einer Saison im Kreise des Profi-Teams, in der Schindler es auf insgesamt 69 Minuten, verteilt auf vier Bundesliga-Spiele brachte, verließ er die Hansestadt und heuerte leihweise in einer anderen an: Rostock.
Dort entwickelte sich der damals 20-Jährige prächtig, wettbewerbsübergreifend standen nach 35 Einsätzen sechs Tore sowie 14 Vorlagen zu Buche. Trotz der formidablen Leistungen und der ansprechenden Zahlen fand Werder nach Schindlers Rückkehr aber keine Verwendung für den Offensivmann.
Schindler: Scheitern in Bremen "kann ich mir nicht erklären"
"Das kann ich mir bis heute nicht erklären", sagt Schindler und schiebt nach: "Es wurde mir klar gesagt, dass ich nach dem Jahr bei Hansa als gestandener Spieler zurückkehren soll. Es war unerklärlich, dass Bremen mich stattdessen ein zweites Mal verleihen wollte." Bezüglich seiner guten Bilanz bei Rostock erklärt er: "Unter heutigen Gesichtspunkten wären das für einen jungen Spieler sicherlich keine schlechten Zahlen. Ich wäre gerne bei Werder geblieben, bin dann aber weiter zum FC Augsburg."
In der Fuggerstadt sei es Schindler zufolge besonders im ersten halben Jahr "nicht so gut" gelaufen. Obwohl seine junge Karriere zu jener Zeit einen ersten kleinen Knick erfuhr, wurde Schindler regelmäßig in die deutsche U21-Nationalmannschaft berufen. In der DFB-Auswahl trainierte und spielte der gebürtige Delmenhorster an der Seite heutiger Superstars und Weltmeister wie beispielsweise Toni Kroos, Mats Hummels, Mesut Özil, Manuel Neuer, Jerome Boateng oder Thomas Müller.
"Es war schon abzusehen, dass diese Jungs es weit bringen werden", sagt Schindler. "Dadurch, dass ich bei Bremen nicht allzu viele Spiele gemacht hatte und andere schon etliche Bundesliga-Einsätze und internationale Erfahrung gesammelt hatten, war das für mich eine tolle Erfahrung." Neuer, Hummels und Co. seien "einfach viel präsenter" gewesen, dementsprechend habe er selbst auch zu seinen Nationalmannschaftskollegen aufgeschaut.
Schindler: "Ich dachte mir nur: 'Wow ...'
"Ich kann mich noch an einen Moment erinnern: Thomas Müller war bei der U21 zum ersten Mal eingeladen, wir saßen gemeinsam am Tisch. Ein paar Stunden, nachdem er angereist war, hieß es, er müsse zur A-Nationalmannschaft. Ich dachte mir nur: 'Wow, welch großen Stellenwert einige Spieler schon haben und wie schnell es manchmal gehen kann, ist schon Wahnsinn!'" Knapp ein Jahr später wurde ebenjener Müller Torschützenkönig in Südafrika, 2014 stemmte er gemeinsam mit vielen Ex-Mitspielern Schindlers den WM-Pokal in den Nachthimmel von Rio de Janeiro, während Schindler selbst sich beim FC St. Pauli auf die anstehende Saison vorbereitete.
"Ich habe mich damals extrem für die Jungs gefreut", sagt Schindler. "Es ist cool zu sehen, dass man mit einigen von ihnen zusammen auf dem Platz gestanden und trainiert hat." Wehmütig sei er mit Blick auf den großen Erfolg seiner einstigen Kollegen nicht: "Der eine hat eben mehr Glück, der andere weniger. Der eine hat eben mehr Talent, der andere weniger. Klar wäre es schön gewesen, dabei zu sein oder eine größere Karriere hinzulegen. Aber ich reflektiere das Erlebte jeden Tag - und das macht mich nicht traurig." Schindler sollte fortan eben noch so einiges erleben.
Nach drei Jahren: Schindler verlässt FC St. Pauli
Zur Saison 2014/15 wurde das dreijährige Kapitel bei Pauli geschlossen, Schindler zog es zu Wehen Wiesbaden. "Das hatte verschiedene Gründe. Ich war recht häufig verletzt, einige Trainer- und Managerwechsel haben sicherlich auch eine Rolle gespielt. Es gab andere Vorstellungen und dann wurde nicht mehr mit mir geplant", begründet er den Wechsel, der ganz offenkundig nicht von ihm initiiert wurde.
"Jeder Spieler, der schon einmal bei Pauli gespielt hat, weiß, was dort abgeht. Ich konnte mich mit dem Verein zu hundert Prozent identifizieren und habe mich unheimlich wohl dort gefühlt", schwärmt er rückblickend. "Ich würde sagen, dass es heute kaum noch möglich ist, sich derart mit einem Verein zu identifizieren. Es ist sehr selten, dass ein Spieler mehr als zwei oder drei Jahre bei einem Klub bleibt."
Schindlers Ziel: die USA, genauer gesagt Cincinnati. Beim zweitklassigen Cincinnati FC blieb er nur eine halbe Saison, absolvierte lediglich acht Pflichtspiele. Er blieb dennoch zunächst in den Staaten: "Ich habe in den USA gelebt und dort auch meine jetzige Freundin kennengelernt. Nach meiner Zeit in Cincinnati bin ich viel gependelt." Schindler hatte nach seinem ersten Auslandsintermezzo aber längst noch nicht genug vom Fußball.
Odyssee in Vietnam: "Das war riskant und abenteuerlich"
Immer mehr teils dubiose Anfragen erreichten ihn auf verschiedensten Wegen. Einem Probetraining in Vietnam stimmte Schindler letztlich zu, ohne damals damit zu rechnen, dass sich das Ganze zu einer echten Odyssee entwickeln sollte:
"Der Kontakt kam über einen Berater zustande, der mir sagte, dass man dort Spieler aus Deutschland sucht. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was mich dort erwartet", sagt er und führt aus: "Am Flughafen haben mich zwei Leute abgeholt, die kaum Englisch sprachen. Ich habe mich gefragt: 'Fahren die dich jetzt wirklich zum Trainingsplatz und ich soll vorspielen?' Das wusste ich nicht. Die Autofahrt dauerte vier oder fünf Stunden und ging durch irgendwelche Städte und Dörfer. Das war recht riskant und abenteuerlich. Als wir ankamen, waren dort noch drei andere Spieler, die vorspielen sollten."
Schindler schildert, dass ein Probetraining sowie ein Testspiel für die Kandidaten anberaumt war. "Das war alles sehr komisch, den potenziellen Trainer habe ich nie gesehen. Auch der Berater, über den das Ganze lief, war nicht vor Ort." Um welchen Gegner es sich bei dem Kick handelte, weiß der mittlerweile 31-Jährige bis heute nicht: "Keine Ahnung", antwortet Schindler auf entsprechende Nachfrage.
Schindler: "Vom Niveau her war ich sehr erschrocken"
"Vom Niveau her war ich sehr erschrocken, das war fünfte Liga. Ich habe drei Tore geschossen. Später hieß es vonseiten des Beraters, dass sie sich für den Afrikaner entschieden hätten. Der hat übrigens kein Tor gemacht." Weil die Umstände in Vietnam aber ohnehin "chaotisch und unprofessionell" gewesen seien, "gab es für mich den Entschluss, nach drei Tagen wieder abzureisen."
Seine Fußballschuhe hängte Schindler aber zunächst mitnichten an den Nagel. Er kam beim niederländischen Zweitligisten SC Cambuur unter, für den er fortan ein Jahr lang aktiv war, ehe er im Juli vergangenen Jahres auch dieses Abenteuer für beendet erklärte und zunächst wieder nach Übersee zu seiner Freundin reiste.
"Ich war nach meiner Station in den Niederlanden auf Vereinssuche und gerade bei meiner Freundin in den USA, als ein Anruf von Borussia Dortmund kam. Der BVB war auf der Suche nach einem erfahrenen Spieler für die U23", erzählt Schindler. "Aus mehreren Gründen kam eine Zusammenarbeit aber nicht zustande. Ich habe mich damals allerdings mit dem sportlichen Leiter Ingo Preuss und Trainer Mike Tullberg gut verständigt. Nachdem ich in den Gesprächen gesagt hatte, dass ich mir vorstellen könne, in naher Zukunft ins Trainergeschäft einzusteigen, boten sie mir an, eine Hospitation zu absolvieren. Dieses Angebot habe ich sofort wahrgenommen."
Ein Anruf von den Färöer-Inseln
Was dann im Rahmen seines Hospitation-Programms geschah, hätte sich das frühere Bremen-Talent wohl in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. "Wir waren eines Tages auf einer Scouting-Tour in den Niederlanden. Jens Berthel Askou (Trainer bei HB Torshavn) rief bei BVB-U23-Coach Mike Tullberg an, weil er auf der Suche nach einem Co-Trainer war. Daraufhin gab es für mich die Option, auf die Färöer-Inseln zu fliegen, um mir ein Bild von den Verhältnissen dort zu machen."
Tatsächlich kommt es zu dem ungewöhnlichen Engagement auf dem Atoll im rauen Nordatlantik, Schindler übernahm Anfang des Jahres als Askous Assistent beim Rekordmeister HB Torshavn. "Wir haben uns sofort super verstanden, dann kam eins zum anderen und ich habe für mich entschieden, etwas Neues zu starten."
Doch wie hat man sich die Situation vorzustellen, wie ist es um die fußballerische Professionalität auf den Färöer-Inseln bestellt? "Die Voraussetzungen sind mit den ersten drei Ligen in Deutschland nicht zu vergleichen. Eine gute Infrastruktur ist noch nicht gegeben", sagt Schindler. Er ergänzt: "Wir verbessern hier aber stetig, wir haben mit mir als Co. erstmals einen Fitness- und Athletik-Trainer. Ein Kraftraum ist mittlerweile auch vorhanden. Wir versuchen, dem Verein etwas mitzugeben und hier eine Struktur aufzubauen." Nicht nur hinsichtlich der Infrastruktur unterscheidet sich die Trainerarbeit in Torshavn von der in vielen anderen europäischen Ländern. Alleine schon aus dem Grund, dass die meisten Spieler ihr Geld nicht ausschließlich mit Fußballspielen verdienen.
Schindler: Einer war aus beruflichen Gründen im Hafen tauchen
"Vormittags und nachmittags finden Trainingsvorbereitungen und Gespräche mit dem Trainerteam statt. Um 17 Uhr trainieren wir, weil ein Großteil der Jungs einer normalen, geregelten Arbeit nachgeht. Von Fischer bis Dachdecker findet man bei uns alles. Zuletzt habe ich gehört, dass einer der Spieler bei der Kälte aus beruflichen Gründen am Hafen tauchen war." Umso höher sei die Leidenschaft einzuordnen, die die Spieler nach getaner Arbeit auf dem Platz an den Tag legen. "Die Jungs arbeiten wirklich hart und geben nachmittags im Training alles. Das ist extrem beeindruckend", schwärmt Schindler.
Anfang März hätte er mit seinem neuen Arbeitgeber beinahe schon den ersten Titel geholt. Im färingischen Supercup unterlag HB allerdings im Elfmeterschießen der Auswahl von KI Klaksvik (4:5). In einigen Monaten nimmt Torshavn an der Qualifikationsrunde für die Europa League teil. Dafür werden die Spieler von ihren Arbeitgebern freigestellt. Endlich wieder Europapokal-Atmosphäre, 13 Jahre nach dem genialen Abend im Weserstadion, als Schindler ins kalte Wasser geworfen wurde. Diesmal wird er derjenige sein, der einem seiner Schützlinge zu erster Erfahrung auf internationalem Parkett verhilft, derjenige, der einem nervösen Debütanten sagt: "Mach Dich warm!"