Die Null neu erleben

Von Stefan Rommel
Philipp Lahm (l.) im Gespräch mit Bundestrainer Joachim Löw
© getty

Das erste Pflichtspiel der WM-Saison ist auch ein Gradmesser für die zuletzt anfällige deutsche Defensive. Bundestrainer Joachim Löw spricht einige Probleme offen an - er sollte an deren Beseitigung aber auch stringent arbeiten.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Wenige Tage vor dem Startschuss zur Weltmeisterschaft 2006 forderte der Mannschaftsrat mit Michael Ballack und Torsten Frings an der Spitze die Unterredung mit Jürgen Klinsmann ein.

Die deutsche Nationalmannschaft stand mitten in der Vorbereitung auf das Heim-Turnier und hatte mit Kolumbien den letzten Test vor dem Auftaktspiel in München vor der Brust.

Erinnerungen an 2006

Lange hatten sich Ballack und Frings zurückgehalten - dabei waren sie es, die unter Klinsmanns überzogener Offensivstrategie am meisten zu leiden hatten. Die beiden Routiniers hielten im zentralen Mittelfeld Wache, Ballack allerdings für seinen Geschmack deutlich zu offensiv orientiert.

Das 1:4 gegen Italien zum Start ins WM-Jahr hatte bleibende Zweifel hinterlassen, die der Test gegen Japan wenige Tage zuvor mit erneut zwei Gegentoren bestätigt hatte. Dann wurde geredet und justiert. Und im Laufe des Turniers präsentierte sich eine ausgewogen abgestimmte deutsche Mannschaft.

Fragen zum Defensivkonzept

Bis zur WM 2014 in Brasilien ist es noch ein Weilchen hin. Und doch drängen sich jetzt schon dringliche Fragen nach dem Zustand der deutschen Mannschaft auf. Allen voran die nach dem zuletzt heftig kritisierten Defensivkonzept. Joachim Löw wurde auf einer Pressekonferenz am Mittwoch in München gepiesackt. So lange, bis sich Löw zum vierten Mal wiederholte und dann sichtlich keine Lust mehr hatte auf weitere Nachfragen.

Es wirkte ein bisschen so, als wollte Löw den Zuhörern klarmachen, dass die Probleme sehr wohl registriert und besprochen wurden, er legte ein paar handelsübliche Signalwörter nach, um Ruhe zu haben. Um den ganzen Rest, so suggerierte der Bundestrainer, kümmern wir uns intern.

Seit über einem Jahr lodern die Diskussionen, immer wieder befeuert durch schläfrige Auftritte seiner Mannschaft. Das jüngste 3:3 gegen zweitklassige Paraguayer hat einige der Probleme nochmals offengelegt, auf die Löw am Mittwoch dann auch reagierte.

"Uns hat die Kompaktheit gefehlt, die einzelnen Mannschaftsteile waren zu weit auseinander. Wir haben immer dann relativ schlechte Spiele gemacht, wenn wir diese Fehler zugelassen haben. Wenn nicht, haben wir in der Regel auch gewonnen", sagte Löw. "Es ist wichtig, dass wir uns über unsere Defensivleistung unterhalten. Insofern bin ich froh, dass wir jetzt das erste Mal seit über einem halben Jahr wieder eine längere Zeit zusammen sind."

Kein Paradigmenwechsel, nur Feinjustierung

Immerhin stehen dem Trainerstab bis zum ersten der beiden WM-Qualifikationsspiele am Freitag gegen Österreich (Fr., ab 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) drei Trainingseinheiten zur Verfügung. Vor dem Auswärtsspiel gegen die Färöer folgen dann noch einmal drei Einheiten.

Einen Paradigmenwechsel, wie er von einigen Experten voreilig und auch in einem gewissen Maß populistisch gefordert wurde, ist von Löw in den kommenden Monaten natürlich nicht zu erwarten. Die Zeit des Abwartens hat diese Mannschaft längst hinter sich. Und damit, da ist sich Löw absolut sicher, wäre heute auch nichts mehr zu holen.

"Nur wer agiert - auch defensiv - kann ein Spiel gewinnen. Ich bin nicht bereit zu sagen, dass wir als Mannschaft ab sofort nur noch auf Konter spielen. Wir müssen nach vorne attackieren, weiter vorne angreifen, auch schon mit unserer Sturmreihe den Gegner früh attackieren und als gesamte Mannschaft nachrücken."

Die Fehlerquellen seien lokalisiert: Die schlampige defensive Organisation, die zu tief stehende Abwehrkette, der zu große Abstand der Viererkette zum Mittelfeld, das Umschaltverhalten in der Defensive. "Das war gegen Paraguay eine halbe Sekunde zu langsam", wurde Löw zumindest einmal konkret. "Uns fehlte die Intensität in den Abläufen. Wir hätten kurzem schnelle Wege gebraucht, haben aber lange Wege ohne Intensität und Aggressivität gemacht."

Problemzone defensives Mittelfeld?

Es sind einige handwerkliche Maßnahmen, die Löw in den kommenden Monaten ergreifen muss. Daraus sollen sich alsbald auch Dinge in den Grauzonen verbessern. Etwa, dass sich seine Mannschaft endlich von jener merkwürdigen inneren Unruhe verabschiedet, die sie nach kleinen und mittelschweren Unwägbarkeiten befällt.

Eine klarere Absicherung im defensiven Mittelfeld wäre zumindest eine sicht- und messbare Maßnahme. Die Variante mit Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira war zuletzt auf Grund von Verletzungen der beiden nicht möglich oder aber, falls beide doch auf dem Platz standen, nicht perfekt aufeinander abgestimmt.

Schweinsteiger und Ilkay Gündogan erscheint eine zu offensive Variante. Zudem kann sie kurzfristig nicht greifen: Beide fehlen in den anstehenden Spielen verletzungsbedingt. Bliebe noch einer der Bender-Zwillinge. Lars ist angeschlagen, konnte am Dienstag nicht trainieren. Die Chancen, dass Sven Bender am Freitag neben Khedira von Beginn an aufläuft, stehen gut für den Dortmunder. Eine Langzeitlösung dürfte aber auch das nicht darstellen. Der deutschen Elf würde das spielerische Element aus dem defensiven Mittelfeld dann zu kurz kommen.

Löw betonte noch einmal, dass es nicht auf einzelne Personen ankomme, sondern auf die Lösung des Einzelnen auf die an ihn gestellten Aufgaben. "Die Aufgaben sind im Mittelfeld klar verteilt. Die Spieler wissen, was ich von ihnen will", lässt Löw ungeachtet der Nominierung kaum mehr einen Spielraum für Ausreden.

"Lernen, wieder zu Null zu spielen"

Einen besonders kritischen Ton schlug der Bundestrainer insgesamt aber nicht an. Zu groß ist das Vertrauen in seine Mannschaft und deren Gabe, wissbegierig und aufmerksam zu bleiben. Auch in etwas angespannten Zeiten. Unterschätzen sollte Löw das Ungleichgewicht innerhalb seiner Mannschaft aber nicht.

Aus den Teamkreisen mehrt sich der Wunsch nach mehr Toreverhinderung. "Vielleicht müssen wir erst einmal wieder lernen, zu null zu spielen", sagte Manuel Neuer nach dem Paraguay-Spiel. Und Kapitän Philipp Lahm hat in einer Sache eine ziemlich konträre Meinung zu der Löws. "Eine Mannschaft zu finden, die defensiv zusammenarbeitet, ist das A und O. Wir haben in der letzten Zeit zu viele Gegentore bekommen", sagt Lahm. Und weiter: "Das darf bei einem Turnier nicht passieren. Die Erfahrung zeigt: Man braucht eine gute Defensive, wenn man ein Turnier gewinnen will."

Probleme bei Großereignissen

In der Sache sind sich Lahm und sein Trainer da grundsätzlich einig. Offenbar verkennt Löw aber die Statistiken, wenn er behauptet, seine Mannschaften hätten die Abstimmung des Defensivverhaltens vor wichtigen Spielen oder einem Turnier bisher immer ordentlich hinbekommen.

"Wenn wir ein paar Trainingseinheiten zur Verfügung haben, hat das bisher immer sehr gut geklappt", sagte Löw. Seit dem großen Umschwung in der deutschen Nationalmannschaft mit der Inthronisierung Klinsmanns und Löw erst an dessen Seite und später als Cheftrainer hat Deutschland aber in bei den vier Großereignissen in 26 absolvierten Spielen 21 Gegentore kassiert. Das entspricht einem Schnitt von 0,81 Gegentoren pro Spiel.

Die fünf Weltmeister in den letzten 20 Jahren kommen dagegen auf einen Schnitt von 0,29 (Spanien 2010, Italien 2006, Frankreich 1998) beziehungsweise 0,43 (Brasilien 1994) und 0,57 (Brasilien 2002). Bei den kontinentalen Titelkämpfen kam Deutschland unter Löw zweimal auf eine Quote von einem Gegentor pro Spiel. Lediglich der 2000er-Europameister Frankreich erlaubte sich eine schwächere Quote (1,17).

Spitzenreiter sind auch hier die Spanier, die bei der letzten EM ein einziges Tor in sechs Spielen kassierten. Und die Iberer sind auch die Mannschaft, die ihre Quote bei jedem der drei Titelgewinne sukzessive auf ein Tor reduzieren konnte. Auffällig dabei: Jedem Team gelang es, sich in der K.o.-Phase im Defensivverhalten zu steigern. Die DFB-Elf dagegen kam immer etwas willfährig daher.

"Ich persönlich liebe es über alles, offensiv zu spielen. Ich liebe das Risiko", sagt Löw. Er hat mit seinem Schaffen eine ganze Reihe deutscher Erstligisten inspiriert, die DFB-Elf war über einen großen Zeitraum ein Rollenmodell für die Bundesliga. Jetzt könnte es an der Zeit sein, dass sich Löw ein paar Anregungen aus der Liga zurückholt.

Deutschlands Quali-Gruppe im Überblick