Jogi Löw: Ein Zeichen von Angst

Von Haruka Gruber
Wie geht es mit Kevin Kuranyi weiter? Bundestrainer Joachim Löw
© Getty

Bundestrainer Joachim Löw denkt über Kevin Kuranyis Begnadigung nach - und outet sich damit als Pragmatiker. Oder als Heuchler. Die Verlierer sind Miroslav Klose und Mario Gomez. Ein Kommentar von Haruka Gruber.

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Noch will sich Jogi Löw nicht festlegen: "Ja, wir werden über Kevin Kuranyi sprechen", sagte der Bundestrainer am Wochenende lediglich. Und nein, eine Entscheidung über eine Rückkehr sei noch nicht gefallen.

Dabei scheint der Ausgang der Unterredung im DFB-Trainerstab klar: Kuranyi wird wieder in der Nationalmannschaft aufgenommen und darf wohl zur WM fahren. Sonst hätte Löw am Wochenende nicht derart offensiv den Weg in die Öffentlichkeit gesucht und über eine mögliche Begnadigung Kuranyis gesprochen.

Trotz Kuranyis starken Leistungen in dieser Saison bleibt jedoch die Frage: Was genau hat sich in den letzten eineinhalb Jahren verändert? "Meine Entscheidung steht und ist unwiderruflich. Daran gibt es nichts zu rütteln", sagte Löw noch nach dem Rausschmiss Kuranyis vor eineinhalb Jahren.

Damals und heute geht es um zwei Ebenen der Argumentation: die ethische und die sportliche.

Kuranyi schon länger selbstkritisch

Löw argumentierte über die ethische Ebene, als er Kuranyi im Herbst 2008 aus dem DFB-Team warf. Unabhängig von seinem sportlichen Wert wäre der Stürmer nicht mehr tragbar, da die Flucht während eines Länderspiels aus menschlicher Sicht nicht zu verzeihen sei.

Jetzt ist Löw aber offenbar dabei, sich um zu entscheiden. Aber nicht, weil er plötzlich davon überzeugt ist, dass Kuranyi geläutert ist. Immerhin hatte sich der Schalker bereits kurz nach dem Eklat bei Löw persönlich entschuldigt und wirkt spätestens seit letztem Sommer selbstkritischer und als Mensch gereift.

Pragmatismus oder Heuchlerei?

Nein, Löw denkt nur über Kuranyi nach, weil dieser neben Stefan Kießling der derzeit einzige formstarke deutsche Stürmer ist und nach einer guten Hinrunde eine überragende Rückrunde spielt. Löw verlässt demnach die ethische Ebene, wechselt einfach die Perspektive und argumentiert plötzlich auf der sportlichen Ebene.

Die einen nennen das Pragmatismus. Die anderen Heuchelei.

Man könnte natürlich sagen: Das ist alles Löws Problem. Er soll selbst mit seinem eigenen Gewissen klarkommen. Aber: Dieses pragmatische/heuchlerische Umdenken wirkt sich auf die Nationalmannschaft aus.

"Keiner darf die Mannschaft im Stich lassen!"

Das glaubwürdige Appellieren an Normen und Werte ist ein probates Mittel einer Führungsfigur, um einer Gruppe von Untergebenen eine Richtung vorzugeben und für einen disziplinierten Gemeinschaftssinn zu sorgen.

Genau das beabsichtigte Löw mit dem Kuranyi-Rauswurf. Er wollte an alle anderen Nationalspieler die Botschaft senden: "Keiner darf die Mannschaft im Stich lassen! Wer das macht, gehört nicht mehr zu unserer Gruppe!"

Sollte Löw jedoch wegen der Aussichten bei der WM nun doch wieder Kuranyi die Hand reichen - welche Botschaft kommt dann bei den anderen an?

Was sagen Klose, Gomez, Kießling und Cacau?

Miroslav Klose ist zwar nur Reservist in München - zeigt im DFB-Trikot aber fast immer gute Leistungen und war ein Garant für die WM-Qualifikation. Bayern-Teamkollege Mario Gomez weist zwar eine ähnlich durchwachsene Nationalmannschaftskarriere auf wie Kuranyi - verhielt sich im Gegenzug aber immer tadellos.

Beide sind wie Kuranyi Stoßstürmer, beide sind im Verein nicht erste Wahl und beiden droht bei der WM womöglich die Bank, weil Kuranyi mitgenommen wird und Löw im 4-2-3-1 nur Platz für einen Angreifer hat. Dieser müsste dann eigentlich Kuranyi heißen - warum sonst sollte sich Löw eine solche Mühe machen?

Oder was sagen Kießling und Cacau, die wegen Kuranyi vielleicht nicht zur WM dürfen, obwohl sie den DFB-Kodex nicht verletzt haben und fußballerisch besser zu Klose oder Gomez passen, sollte Löw im 4-4-2 spielen lassen?

Kein Rückgrat, aber immerhin erfolgsorientiert

Es gab in der jüngsten Vergangenheit noch mehr Eklats als die Kuranyi-Episode: Lukas Podolskis Ohrfeige gegen Michael Ballack und die Attacke auf einen Journalisten oder Ballacks Affront gegen die sportliche Führung des DFB. Aber das reichte Löw nicht, diese Spieler abzustrafen. Bei Kuranyi jedoch sah Löw eine Grenze überschritten und statuierte ein Exempel. Damals stimmten ihm die meisten zu. Zumal ein Kuranyi im DFB-Team verzichtbar schien.

Wenn jedoch Löw selbst das Exempel ad absurdum führt, indem er Kuranyi wieder zurückholt, muss er in Kauf nehmen, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Und damit auch an Autorität.

Woraus sich die Frage ergibt: Warum genau begnadigt Löw Kuranyi (oder denkt zumindest stark darüber nach)?

Ist es wie zuvor beschrieben sportliches Kalkül, weil Kuranyi in einer solch starken Verfassung wie gemacht scheint für Löws 4-2-3-1? Immerhin kann man in diesem Fall Löw nicht Rückgrat, dafür aber eine gewisse Erfolgsorientiertheit unterstellen, welcher sich bei der WM vielleicht auszahlt.

Angst als schlechter Ratgeber

Oder: Löw lässt sich vom Druck treiben. Franz Beckenbauer, etliche Vertreter der Bundesliga, der Boulevard: Sie alle traten bereits als Kuranyi-Lobbyisten auf, selbst das Sport-Feuilleton plädiert fast geschlossen für eine Rückkehr.

Natürlich wägt ein Bundestrainer einem PR-Berater gleich seine Entscheidungen auch danach ab, wie sie in der Öffentlichkeit ankommen. Das ist legitim.

Aber in einem solchen Ausmaß sich vorher als Verfechter der Moral zu gerieren - nur um angesichts der mannigfaltigen Baustellen der Nationalmannschaft womöglich doch auf einen längst Verstoßenen und als Mensch diskreditierten Spieler zu setzen, zeugt von Angst. Angst vor einem schlechten Abschneiden bei der WM.

Und Angst war noch nie ein guter Ratgeber.

Bundestrainer Löw lenkt ein: Kuranyi wieder ein Thema