Prozess im Innern

Thomas Tuchel durchlebte als Trainer von Borussia Dortmund zuletzt auch unruhige Zeiten
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Tuchel hing womöglich zu lange der Tatsache hinterher, in seiner zweiten Saison beim BVB auf einmal einen kompletten Neustart hinlegen zu müssen. Die bereits im vergangenen Winter eingetütete Verpflichtung von Ousmane Dembele stellte für ihn ein fehlendes Mosaiksteinchen dar, um die entwickelte Basis noch weiter kräftigen und den FC Bayern München noch stärker attackieren zu können.

Eine Geschichte, die sich in Tuchels Eigenheim abspielte, illustriert seine anfängliche Enttäuschung sehr gut: Ilkay Gündogan teilte Tuchel auf dessen Terrasse mit, den BVB verlassen zu wollen. Tuchels Frau wandte sich schließlich Gündogan zu und sagte, er werde nicht glauben können, wie traurig ihren Mann diese Entscheidung stimmen werde.

Prognose holpriger Saisonverlauf

"Warum ist das passiert? Wir hatten doch schon unseren eigenen erfolgreichen Spielstil", äußerte Tuchel bei ESPN zu seiner Gefühlslage im Sommer. Er habe lernen müssen, loszulassen und keine Energie darauf zu verschwenden, der Vergangenheit hinterher zu trauern.

Der gelungene Saisonstart stellte sich als eine Täuschung heraus. Dadurch wurde die Messlatte verblüffend schnell nach oben geschoben. Es hatte den Anschein, als würde es wie im Vorjahr fast von alleine flutschen.

Dann jedoch trat in der Bundesliga sowie im Pokalspiel gegen Union Berlin das ein, was der Klub im Vorfeld der Spielzeit als möglich prognostizierte: ein holpriger Saisonverlauf. Damit zielte die Vereinsführung zwar eher auf die Startphase ab, doch die ist tatsächlich nur weiterhin in vollem Gange.

87 Gegentore in 81 Pflichtspielen

Das Holprige fühlt sich für den BVB nun etwas überraschender an als angenommen. Auch vor dem Start ins neue Jahr rennt man der Hoffnung hinterher, nun schnellstmöglich in einen Fluss zu kommen, der Aussicht auf eine deutliche Leistungssteigerung verspricht. Die Realität sieht jedoch so aus, dass sich Spieler mit ständigen Blessuren herumschlagen, der Mannschaftskader sich permanent verändert und Improvisation statt Konstanz angesagt ist.

Diese Umstände erschwerten es bislang, neue Hierarchien und die verlorenen Säulen innerhalb des Teams organisch wachsen zu lassen. Mit dem Ergebnis, dass die Spielstrategie trotz der enormen Offensivwucht bisweilen leichter zu verteidigen ist. Der maschinenartige Rhythmus des Vorjahres geht der Mannschaft ab und sie lässt sich dazu simpler aushebeln. Insgesamt 87 Gegentore in 81 Pflichtspielen unter Tuchel belegen, dass ein tragfähiges Defensivkonzept noch nicht gefunden ist.

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Tuchel kann kein Patentrezept gegen diese Widrigkeiten parat haben. Wie seiner Mannschaft gelingen ihm die Dinge manches Mal besser und manchmal auch schlechter. Das war zu Klopps Anfangszeit kaum anders.

Umbruch für Tuchel und den BVB

Tuchel wird von den Fans allerdings deutlich kritischer beäugt. Seine Personalrochaden sind wie die emotionale Distanz zu den Anhängern Gegenstand hitziger Diskussionen. Andere fragen sich, ob er die Mannschaft mit seiner wissenschaftlich-nüchternen Herangehensweise an den Fußball nicht zu sehr mit Inhalten und Forderungen überfrachtet.

Auch rund um das Vereinsumfeld vernahm man bereits erste Stimmen, wonach Tuchels Standing innerhalb des Klubs schon bessere Tage gesehen habe. Die Vereinsführung ist solcher Diskussionen leid, Watzke und Zorc stärken Tuchel öffentlich uneingeschränkt den Rücken. Im Sommer soll es Gespräche über seinen bis 2018 dotierten Vertrag und über die weitere Zukunft geben.

Tuchel hat jetzt auf persönlicher Ebene einen Umbruch durchzumachen. Für Borussia Dortmund gilt das in der Post-Klopp-Zeit in gleichem Maße. Der Klub stand in den eigenen Reihen zuletzt häufiger in der Kritik, sei es bei der Frage nach den Auswüchsen der Kommerzialisierung oder dem Umgang mit der Basis. Es wäre Gift für den Verein, würde man die siebenjährige Erfolgsgeschichte unter Klopp auf Dauer zu sehr überhöhen.

Entwicklungsphase läuft

Stattdessen sollte im Jetzt nicht in Vergessenheit geraten, dass der BVB mit Tuchel einen exzellenten Trainer unter Vertrag hat. Die Vorsaison lieferte dafür Beweise zur Genüge, als Tuchel unter keinesfalls leichten Startbedingungen im Handumdrehen einen neuen Fußball implementierte, der bis heute von sehr guten Statistiken unterfüttert wird.

Zorc und Chefscout Mislintat haben zudem im Sommer Transfers getätigt, wegen derer sie nicht nur von den Klubs beneidet werden, die bei den damaligen Verhandlungen leer ausgingen. Der BVB hat nun ein Team zusammen, dass sich inmitten einer fortwährenden Entwicklungsphase befindet.

Sportlich ist man gut genug aufgestellt, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Doch der Umbruch der Borussia ist in vollem Gange und könnte sich noch länger hinziehen als ursprünglich angenommen. Vielleicht nähert er sich erst in zwei, drei Jahren seinem Zenit. Ganz Ähnliches gilt auch für Tuchel.

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