"Stuttgart 18" - Ein Verein ohne Identität

Von Florian Regelmann
Ein Sieg, sechs Niederlagen, Platz 18: Der VfB Stuttgart steckt in einer tiefen Krise
© Getty

Bahnhofs-Krieg und VfB-Chaos: In Stuttgart brennt's lichterloh. SPOX-Redakteur Florian Regelmann über die Probleme und die Zukunft eines schwer zu greifenden Vereins, der nach der Entlassung von Christian Gross nur noch eines machen kann: beten.

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August 2011: Der VfB Stuttgart empfängt in seinem fertig gestellten Schmuckstück Kickers Offenbach, die Grünen haben die Mehrheit im Landtag - und der Baustopp am Stuttgarter Hauptbahnhof dauert nun schon zehn Monate. Für die Konservativen in Baden-Württembergs Landeshauptstadt ein Horrorszenario.

Was ist in diesen Tagen in der sonst so ruhigen Stadt Stuttgart nicht alles los? Die Debatte, fast könnte man sagen, der Krieg um den neuen Bahnhof beherrscht die landesweiten Nachrichtensendungen - und nur ein paar Kilometer weiter geht es beim Verein für Bewegungsspiele genauso chaotisch zu. Stuttgart, what's up?

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Für die Bahnhofsgegner heißt die Formel des Grauens "Stuttgart 21". Für den VfB heißt sie aktuell "Stuttgart 18". Der VfB steht auf dem letzten Platz der Tabelle und hofft nach der Entlassung von Christian Gross auf die große Wende. SPOX über die Probleme und die Zukunft eines Vereins, der Außenstehende und Fans oft gleichermaßen sprachlos zurücklässt.

Was genau ist eigentlich das Problem des Systems VfB?

Wir schreiben die Saison 2000/2001. Der VfB Stuttgart zittert um den Klassenerhalt und entledigt sich erst am vorletzten Spieltag durch einen 1:0-Sieg gegen den FC Schalke 04 aller Abstiegssorgen. Krassimir Balakow schießt in der 90. Minute den Siegtreffer - der VfB belegt in der Abschlusstabelle Rang 15.

Es ist bis heute das letzte Mal, dass Stuttgart sich zum Ende einer Saison so tief im Keller befindet. In den folgenden neun Jahren schneidet der VfB nie schlechter als auf Rang neun ab, siebenmal landet er in den Top 6 - mit der Meisterschaft 2007 als großen Höhepunkt.

Genau in diese Zeit fällt auch die Arbeit des Duos Erwin Staudt/Dieter Hundt. Staudt wird 2003 zum Präsidenten gewählt, ein Jahr zuvor trat Hundt an die Spitze des Aufsichtsrats. Alles in allem blicken die Chefs gemeinsam mit dem seit Ewigkeiten beim VfB angestellten Finanzvorstand Ulrich Ruf also auf eine durchaus erfolgreiche Zeit zurück.

Vor allem auf eine dem nackten Endergebnis nach ziemlich solide. Und genau das würde man sich angesichts der Lebensläufe der Herren auch erwarten. Der Eine, Erwin Staudt, ein hoch angesehener ehemaliger IBM-Deutschland-Boss. Der Andere, Dieter Hundt, ein hoch angesehener Arbeitgeberpräsident.

Beide stellen ohne Zweifel in der Wirtschaft absolute Kompetenz dar. Beide sind Leute, die aus ihrer Erfahrung wissen sollten, dass man nur mit einem Plan langfristig Erfolg haben kann. Aber hat der VfB einen Plan? Hat der VfB eine Identität? Weiß irgendein Außenstehender, wofür dieser Verein steht?

Die Antwort: jein. Während die herausragende Jugendarbeit sehr wohl eine Identität erkennen lässt und als Fundament für ein übergeordnetes großes Ganzes dienen könnte, versandet sie in den Händen zweier Machtmenschen, die über keinerlei Fußball-Fachkompetenz verfügen und beim ersten Negativtrend die Nerven verlieren.

Zum Teil sicherlich auch deshalb, weil Stuttgart eines der schwierigsten Umfelder der Liga hat. Das Operetten-Publikum auf der Haupttribüne ist bekannt für eine Ungeduld, die sich wohl bis ganz nach oben durchzieht. Fazit: Zwei Herren, die für Kontinuität stehen sollten, stehen für das Gegenteil.

Wie kommt der VfB aus dem Keller? Jetzt mit dem Tabellenrechner ausprobieren!

Welche Rolle spielt der bemitleidenswerte Fredi Bobic?

Fredi Bobic - Direktor Sport. Jochen Schneider - Direktor Sport. Die offizielle VfB-Hierarchie weist zwei Personen auf, die genau den gleichen Titel tragen. Sicher nur ein Randaspekt, aber es passt ein bisschen in die in manchen Bereichen vorhandene Strukturlosigkeit des Vereins.

Ex-Hero Bobic als Identifikationsfigur zum VfB zu holen, war grundsätzlich ein durchaus sinnvoller Schachzug. Bobic ist es aufgrund seiner Kompetenz zuzutrauen, sich in seinem neuen Job einen Namen zu machen, aber er wurde als Lehrling in eine Situation manövriert, in der er nur schlecht aussehen kann.

Nach dem Abgang von Horst Heldt dauerte es Wochen, ehe Bobic installiert wurde. Als er schließlich seine Arbeit beginnen konnte, war der Transfermarkt längst abgegrast. Die einzige Chance, einen Coup zu landen, bestand in einem anvisierten Transfer von Mladen Petric vom HSV.

Bobic konnte - ohne Zweifel auf Anweisung von Finanzvorstand Ruf - nur eine lächerliche Summe bieten und machte sich zum Gespött von HSV-Coach Armin Veh. Dabei konnte er gar nicht großartig anders handeln. Nun bleibt Bobic nichts anderes übrig, als auf die Karte Jens Keller zu setzen und zu hoffen. Er kann aktuell de facto nichts tun.

Was kann Jens Keller bewirken?

Cheftrainer: Jens Keller. Assistent: Jürgen Kramny. Eine derartige Trainercombo hätte sich wohl kaum ein VfB-Fan in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Nun ist sie aber da - und soll bei entsprechend schnell einkehrendem Erfolg auch bleiben, wenn es nach dem Wunsch der Vereinsführung geht.

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Auch wenn sich die Fan-Wut interessanterweise fast ausschließlich auf den Vorstand und nicht auf die Mannschaft und Ex-Trainer Gross bezieht, wäre es schlicht falsch, sie von Fehlern freizusprechen.

Gross wirkte schon sehr früh in der Saison extrem frustriert von den Rahmenbedingungen, die er beim VfB vorfindet. Seine Aussage, dass der Verein lieber ins Stadion investiert als in die Mannschaft, ist zwar faktisch richtig, aber sie war eine gehörige Provokation. Zumal auch der Schweizer wissen sollte, dass der Umbau der Mercedes-Benz Arena absolut notwendig war.

Dazu kommt Gross' merkwürdiger Umgang mit einer potenziellen Leaderpersönlichkeit (Serdar Tasci) und wenig verständlichen Aufstellungsentscheidungen. So ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Keller Christian Träsch von der rechten Abwehrseite, auf der er komplett verschenkt ist, wieder ins zentrale Mittelfeld beordern wird.

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Viel mehr wird aufgrund der anhaltenden Verletzungssorgen aber kurzfristig nicht drin sein. Keller muss deshalb vor allem die richtige Ansprache an die Mannschaft finden und diese davon überzeugen, dass er der richtige Coach für sie ist.

Ist der Abstieg realistisch?

Es sind sieben Spieltage absolviert. Sieben. Grundsätzlich sollte bei 27 noch ausstehenden Partien (noch) nicht die letzte Panik ausbrechen. Ist sie aber. Es ist bemerkenswert, dass Präsident Staudt von der schwierigsten Situation der Vereinsgeschichte spricht.

Bei genauerer Betrachtung kommt man nicht umhin festzustellen, dass das Team zwar immer noch eine zu hohe Qualität besitzt, als dass es absteigen dürfte, aber die Gefahr eines Nicht-Umschwungs ist höher als vielleicht manche denken.

Nach den richtungweisenden Spielen auf Schalke und gegen St. Pauli heißen die nächsten Gegner: Wolfsburg, Bremen, Kaiserslautern. Auch gegen den HSV, Hoffenheim und die Bayern muss der VfB in der Vorrunde noch antreten.

Wenn Aufsichtsratsboss Hundt davon spricht, dass man vom Etat her im ersten Drittel der Bundesliga platziert sein müsste, dann mögen das die Zahlen sagen. Aber zwischen Etat und tatsächlicher Qualität der Mannschaft besteht eine beträchtliche Kluft.

Der VfB ist nach den Abgängen von Sami Khedira und Jens Lehmann - und der jahrelangen verfehlten Transferpolitik - im Normalfall Mittelmaß. Nicht Top 5. Und vom Mittelmaß ist die Fallhöhe in Richtung Abstiegszone eben nicht mehr so hoch. Der schlimmste Fehler wäre, trotz der misslichen Lage die Situation zu verkennen und noch Träume zu hegen, wieder mit einer Aufholjagd an die europäischen Ränge heranrücken zu können. Es darf nur der Klassenerhalt zählen.

Wie geht es auf der Trainerposition weiter, sollte Jens Keller scheitern?

Ein Markenzeichen eines gut geführten Vereins kann sich im besten Falle auch auf der Besetzung des Trainerpostens zeigen. Aber welchen Trainertyp bevorzugt man in Stuttgart eigentlich?

In den letzten Jahren wurden praktisch alle ausprobiert. Ein Weltmann wie Giovanni Trapattoni war dabei. Genauso wie der allmächtige Felix Magath, die Notlösung Armin Veh oder Neuling Markus Babbel. Über einen gewissen Zeitraum gingen viele dieser Versuche auf, aber Kontinuität war nie vorhanden.

Nun ist man zu einer altbewährten Methode zurückgegangen: Den Co-Trainer zum Chef machen und beten, dass die Wende kommt. Sollte Keller aber keinen kurzfristigen Heileffekt haben, wird sich der VfB gezwungen sehen, sich auf dem Trainermarkt umzuschauen.

Und er wird feststellen, dass dieser unerhört leer ist. Ist dieser Punkt erreicht, ist fast davon auszugehen, dass die Verantwortlichen dazu tendieren werden, eine "große" Lösung präsentieren zu wollen.

Ob die nun Christoph Daum, Matthias Sammer, Krassimir Balakow - oder gar Jürgen Klinsmann heißen könnte, sei dahin gestellt, aber alle Lösungen dieser Kragenweite wären ein großes Wagnis. Ein Wagnis, das zum jetzigen Zustand des VfB irgendwie passen würde. Was aber nicht heißt, dass eine "Graue-Maus-Variante" a la Lorenz-Günther Köstner oder Benno Möhlmann irgendjemanden verwundern dürfte.

Was wird eigentlich aus Christian Gross?

Gross gehört in die Kategorie an Trainern, die aufgrund ihrer allseits anerkannten Qualität eine Minute nach ihrer Entlassung hunderte von Anrufe auf ihrer Mailbox haben müssten. Gross könnten sich so einige Möglichkeiten bieten.

Neben einem weiteren Engagement in der Bundesliga oder in der Schweizer Liga könnte der Posten als Schweizer Nationaltrainer eine Option werden. Denn auch wenn die Schweiz mit dem 4:1 gegen Wales den ersten Sieg in der EM-Qualifikation eingefahren hat, ist die Lage von Ottmar Hitzfelds Truppe prekär.

Dazu kommt, dass Hitzfeld über den Umgang der Schweizer Fans mit seinen Spielern (Pfiffe gegen Kapitän Alex Frei) extrem enttäuscht und erbost ist. Gross' wäre bei einem Abgang Hitzfelds sofort die erste Wahl als dessen Nachfolger.

Gross in Stuttgart entlassen: "Die inkompetenteste Vereinsführung der Liga"