"Sollen wir hier spielen wie Bochum?"

Von Interview: Steffen Schneider
Hermann Gerland genießt bei den Fans des FC Bayern München mittlerweile Kultstatus
© Getty

Hermann Gerland ist beim FC Bayern München der heimliche Star auf der Trainerbank. Die Kultfigur über die klar definierte Trainingsmethodik beim FC Bayern, den Anspruch, immer erfolgreich und attraktiv zu spielen und den Vergleich zwischen dem Fußball damals und heute.

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SPOX: Herr Gerland, was verstehen Sie unter modernem Fußball?

Hermann Gerland: Für mich ist moderner Fußball erfolgreicher Fußball. Das heißt: Das Ergebnis muss stimmen und die Zuschauer müssen zufrieden nach Hause gehen. Wir - ich spreche hier von Bayern München - müssen nach vorne spielen, so dass die Zuschauer nach dem Spiel sagen: Wir haben uns vergnügt.

SPOX: Welche Rolle spielt dabei die körperliche Fitness der Spieler?

Gerland: Es geht einfach nicht mehr, dass Spieler körperlich nicht topfit sind. Das muss nicht immer 100 Prozent sein, weil dann die Verletzungsgefahr sehr groß ist. Aber jeder Spieler sollte schon 95 Prozent körperliche Fitness aufweisen. Auf unterschiedlichen Positionen werden dabei natürlich unterschiedliche Laufleistungen abgerufen.

SPOX: Erklären Sie das, bitte.

Gerland: Ein Innenverteidiger muss im läuferischen Bereich nicht so stark sein wie ein Außenverteidiger. Von den Außenverteidigern erwarten wir, dass sie das Spiel mitgestalten. Die Innenverteidiger sollen zwar das Spiel von hinten kontrollieren, aber sie sollen beispielsweise nicht mit dem Ball am Fuß in die gegnerische Hälfte laufen. Bei Standardsituationen sind sie gefragt, aber in der Regel haben sie nicht so eine hohe Laufleistung wie ein defensiver Mittelfeldspieler, ein Zehner oder ein Außenverteidiger.

SPOX: Was meinen Sie mit 95 Prozent Fitness?

Gerland: Du bist schneller fertig, wenn du in jedem Training Vollgas gibst, immer rennst. Manche Spieler müssen auch gebremst werden. Manche muss man anschieben, aber manchen muss man sagen: 'Junge, halt dich mal bisschen zurück.' Aber das weiß der Trainer. Das hat er zu wissen.

SPOX: Hat sich die Bedeutung der Physis im modernen Fußball gewandelt?

Gerland: Was heißt gewandelt? Ich denke, dass die Spieler vor 20 Jahren auch fit waren, aber die medizinischen Erkenntnisse waren nicht so weit. Auch heute wird noch immer im Wald gelaufen, viele Trainer machen das. Ich habe das noch nie gemacht und unter Louis van Gaal wird in diesem Bereich auch überhaupt nicht gelaufen. Wir machen Sprints, aber er lässt keine Waldläufe über acht oder zehn Kilometer machen.

SPOX: Sind heutige Profis denn fitter als ihre Kollegen vor zehn, 20 oder 30 Jahren?

Gerland: Ich kann das ja nur mit mir vergleichen. Ich lebte nur von meiner Physis. Ich konnte die 100 Meter in 11 Sekunden laufen, die 1000 Meter in drei Minuten. Ich bin 60 Zentimeter aus dem Stand gesprungen. Ich hatte also eine gute Physis. Aber: Wir haben früher etwas trainiert, was im Spiel nicht benötigt wurde.

SPOX: Zum Beispiel?

Gerland: Warum muss man mit Medizinbällen den Berg hoch laufen? Da muss mir mal einer einen guten Grund nennen! Gut, wenn ich den Berg hoch laufe, kann ich die Kraft im Sprinttraining erhöhen und wenn ich den Berg runterlaufe, erhöhe ich die Schnelligkeit. Aber wir sind ja teilweise mit zwei Medizinbällen 400 Meter gelaufen. Das ist out. Heute ist Fußballspielen gefragt, heute sind schnelle Entscheidungen gefragt. Aber ich will nicht sagen, dass die Spieler heute schneller laufen. Ich hatte Gegenspieler, die sind auch die 100 Meter in 11 Sekunden gelaufen.

SPOX: Also kann man nicht sagen: Die heutigen Spieler sind fitter.

Gerland: Nein, sie sind nicht fitter, sie sind auf eine andere Art und Weise fit. Im Kopf sind sie fitter als wir. Wir haben überhaupt nicht überlegt. Wenn der Trainer etwas vorgegeben hat, dann haben wir das gemacht. Heute kommt schon mal die Frage: 'Trainer, warum machen wir das?'

SPOX: Wenn man sich das WM-Endspiel von 1974 anschaut, könnte man meinen, es handelt sich um eine andere Sportart.

Gerland: Da denkt man, die Spieler sind früher nur Spazieren gegangen. Aber Franz Beckenbauer oder Uli Hoeneß, die liefen auch 11,0 über 100 Meter. Da waren die Räume größer, die Taktik war eine andere. Da hatte man viel mehr Zeit, heute ist da sofort ein Gegenspieler drauf. Also muss man so trainieren, dass man damit klarkommt. Wenn man heute so trainieren würde wie vor 30 Jahren, dann würde die Mannschaft - auch wenn sie besser wäre - verlieren.

SPOX: Wie würde sich die Weltmeisterelf von 1974 in einem fiktiven Duell mit der aktuellen Nationalelf schlagen?

Gerland: Dann würde die heutige Elf gewinnen. Aber man darf nicht sagen, dass die Spieler von damals nicht heute bei uns mitspielen könnten. Gerd Müller, Franz Beckenbauer - die würden immer spielen. Sepp Maier war ein super Torwart. Also es ist nicht so, dass die Spieler schlechter waren - das ganze Fußballspiel hat sich weiterentwickelt. Wenn sie das beste Auto von damals nehmen und auf dem Nürburgring fahren, da können Sie mit einem heutigen Auto wahrscheinlich rückwärts fahren und sind genauso schnell. Im Fußball ist es eben auch weiter gegangen.

SPOX: Man spricht von Entwicklung.

Gerland: Fußballschuhe, Bälle - alles hat sich weiterentwickelt und ist immer schneller, immer besser geworden. Nein, man kann die Mannschaften von 1974 und heute nicht vergleichen. Sie sind einfach ganz anders ausgebildet worden. Heute hat man ganz andere Möglichkeiten.

SPOX: Zum Beispiel?

Gerland: Früher hat mir der Trainer nach dem Spiel etwas gesagt und ich konnte sagen: 'Trainer, was erzählst du da für einen Scheiß? Das stimmt doch nicht!' Wenn ein Spieler das heute sagt,  lassen wir einfach einen Film mit der entsprechenden Szene laufen. Und dann kann der Spieler sehen, wie er sich verhalten hat. Er merkt dann schnell, ob er unsere Vorgaben erfüllt hat, oder nicht.

SPOX: Man reibt dem Spieler also seine Fehler unter die Nase.

Gerland: Die Sachen sind heute relativ einfach zu kontrollieren, was früher nicht der Fall war. Bei uns haben die Spieler zum Beispiel einen Computer, bei dem sie auf eine Nummer drücken. Nummer 28, Holger Badstuber, dann sieht er alle Szenen, die er im Spiel hatte. Eine nach der anderen. Er sieht jede Situation, an der er beteiligt war.

SPOX: Es ist also ein unfairer Vergleich.

Gerland: Ja, wenn die Spieler von damals mit den Erkenntnissen von heute trainiert hätten, dann wäre das ein fairer Vergleich gewesen. Dann hätte man sagen können: So, jetzt wollen wir mal sehen, was los ist. Aber so? Ich weiß zum Beispiel nicht einmal, ob Sepp Maier 1974 einen Torwarttrainer hatte.

SPOX: Ändert sich die Taktik von Jugendmannschaften einhergehend mit der körperlichen Entwicklung der Mannschaften? Spielt eine C-Jugend taktisch anders als eine A-Jugend?

Gerland: Da sollte sich die Taktik eigentlich nicht ändern. Wir erwarten, dass alle Mannschaften von hinten heraus Fußball spielen. Dass wir nicht weite Bälle nach vorne schlagen, sondern, dass wir die Außenverteidiger, Innenverteidiger oder den Sechser anspielen. Je nachdem, wer frei ist. Wir wollen eine Lösung finden.

SPOX: Egal, wie weit die körperliche Entwicklung ist?

Gerland: In der Jugend ist das natürlich schwer: In unserer C-Jugend haben wir einige sehr kleine Spieler - und beim Gegner sind welche, die haben Bärte. Da sind die Gegenspieler auf zehn Metern drei Meter schneller. Da hat man keine Chance, wenn man nur Fußball spielen will, aber genau das ist unser Ziel. Wir wollen, dass wir von hinten heraus Fußball spielen, und dass die Taktik so ist, wie sie oben bei den Profis vorgegeben wird. Die Bundesliga-Elf spielt ja ein 4-2-3-1.

SPOX: Sind das 4-2-3-1 und das modifizierte 4-4-1-1 die Formationen, in der alle Jugendmannschaften des FC Bayern bis hin zur Drittligaelf spielen?

Gerland: Ja, die Vorgabe gibt es ganz klar vom Verein. Aber die Trainer haben natürlich auswärts immer die Möglichkeit, es anders zu machen, weil ich nicht jedes Spiel kontrollieren kann.

SPOX: Im Champions-League-Finale sahen die Zuschauer einen angreifenden FC Bayern gegen Inter Mailand, einen Gegner mit 'militanter Defensive und Turbokontern', wie es die 'Süddeutsche Zeitung' formulierte. Würden Sie das so unterschreiben?

Gerland: Nein. Eine geordnete Defensive ist bei uns auch enorm wichtig. Es ist nicht so, dass wir sagen: Wir spielen nur nach vorne. Wir müssen uns Rückendeckung geben, wir müssen kompakt stehen. Der Torwart muss in die Tiefe verteidigen, wenn der Gegner den Ball hat. Wir stehen ja relativ hoch. Aber wir wollen das Spiel bestimmen. Und auch in der Jugend wollen wir das.

SPOX: Auch eine Vorgabe?

Gerland: Wenn wir es da nicht tun, wie wollen wir es dann später oben machen, wenn wir hier spielen wie der VfL Bochum oder Arminia Bielefeld? Ich habe beide Mannschaften trainiert, ich kann das sagen. Wenn ich kein gutes Material habe, dann kann ich eben nicht an der Mittellinie stehen, das geht nicht. Dann sind die Abwehrspieler zu langsam, zu schlecht, können zu wenig Fußball spielen, um diese Situationen zu lösen. Aber wir sind Bayern München. Und wir wollen nach vorne Fußball spielen.

SPOX: Erwarten Sie in den nächsten zehn, 20, 30 Jahren taktische Neuerungen?

Gerland: Wenn man drei exzellente Leute in der Abwehr hat, kann man natürlich auch mit drei Mann verteidigen. Aber das Risiko ist höher.

SPOX: Was werden Zuschauer in 50 Jahren denken, wenn sie sich eine Aufzeichnung des WM-Endspiels von 2010 ansehen? Wird es bis dahin ebenso große Veränderungen geben wie in den vergangenen Jahrzehnten?

Gerland: Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Was soll da noch passieren? Vielleicht kommen neue Erkenntnisse im sportmedizinischen Bereich, das kann man aber nicht voraussagen. Aber ich denke nicht, dass heute so viel falschgemacht wird wie vor 50 Jahren, beispielsweise mit der Ernährung. Das meiste ist ausgereizt.

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