Nur der Kanzler konnte ihn stoppen

Von Marcus Giebel
Reiner Calmund führte Bayer Leverkusen als Manager in die Spitze der Bundesliga
© Getty

Der Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren hatte wirtschaftliche, politische und vor allem gesellschaftliche Auswirkungen auf das Leben in Deutschland und das in der gesamten Welt. Auch für den Sport tun sich 1989 urplötzlich ganz neue Möglichkeiten auf. Reiner Calmund, gerade ein Jahr zuvor auf den Managerposten bei Bayer Leverkusen gestiegen, versteht die neue Situation wie kein Zweiter für sich zu nutzen. Bei SPOX erinnert sich Calli an die Ereignisse von vor 20 Jahren.

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Reiner Calmund und Berlin - das passt zusammen. Sagt zumindest der 60-jährige Rheinländer: "Die Berliner reden wie ich frei nach ihrer Schnauze." Auch der langjährige Macher von Bayer Leverkusen nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Gerade wegen dieser offenen Art erfreut er sich nicht nur unter den Fußball-Fans großer Beliebtheit.

Am 11. November 1989 jedoch ergründet Calli einen ganz neuen Part seiner Lieblingsstadt. "Die Straßen waren voller Menschen. Es war ein wunderschöner Moment, alles vor Ort mitzuerleben." Zwei Tage zuvor ist die Berliner Mauer gefallen.

Calmund unterhält sich mit Menschen aus Ost und West, saugt die gespannte Atmosphäre in sich auf. "Das ging unter die Haut. Wir haben bis in die Nacht mit fremden Menschen über die Ereignisse und die Zukunft diskutiert."

Zweite Liga vor 60.000 Zuschauern

Doch Calmund wäre nicht Calmund, würde er auf dieser Privat-Reise nicht auch Zeit für seine große Liebe finden - seinen Beruf. Am Tag darauf empfängt Hertha BSC im Olympiastadion die SG Wattenscheid 09 zum Zweitliga-Duell.

60.000 Zuschauer finden sich auf den gut gefüllten Tribünen ein. Dabei, so Calmund, "konnte man bei so einem Spiel an anderen Tagen jedem Zuschauer einen Schnaps ausgeben und kam trotzdem mit einer Flasche aus". Interessiert verfolgt er die 90 Minuten mit den Zehntausenden im Freudentaumel.

Der wichtigste Teil des Berlin-Besuchs folgt aber erst noch. Der Geschäftliche. Calmund ist einer der umtriebigsten Manager der Bundesliga. Im Westen erkennt er gewachsene Strukturen, viel Geld, finanzstarke Klubs. Im Osten gibt es das alles nicht. Aber es gibt Spieler der Extraklasse. In Hülle und Fülle.

Am 15. November 1989 steht in Wien das WM-Qualifikationsspiel zwischen Österreich und der DDR an. Calmund wittert wie mehrere Dutzend anderer Manager die Gelegenheit, dort erste Kontakte mit den ostdeutschen Kicker-Stars wie Ulf Kirsten, Matthias Sammer und Andreas Thom zu knüpfen.

Betreuer als Fotograf nach Wien

Aber Calmund ist gewiefter als der Rest. Er verschafft Leverkusens Jugendbetreuer Wolfgang Karnath per Fotografen-Akkreditierung Zugang in den Innenraum des Wiener Praterstadions. Der Auftrag: Vertrauen zur DDR-Delegation aufbauen und die Telefonnummern und Adressen der Spieler beschaffen.

Das gesamte Spiel verbringt Karnath in der Nähe der DDR-Ersatzbank. Bayers Chef-Scout Norbert Ziegler und Dieter Herzog nehmen auf der Tribüne Platz. Von dort haben sie ein genaues Auge auf das ostdeutsche Team. Ohne dass jemand von den wahren Interessen ahnt.

"Offiziell haben wir Toni Polster beobachtet", verrät Calmund. Österreichs Torjäger schießt Austria mit einem Dreierpack beim 3:0 zur WM in Italien. Doch viel wichtiger für Calmund: Karnaths geheime Mission ist erfolgreich.

Matthias Sammer erinnert sich: "Ich saß bereits ausgewechselt auf der Bank, als plötzlich ein Fotograf neben mir saß. Er gab mir schnell zu verstehen, dass er von Bayer Leverkusen geschickt sei und meine Adresse haben wollte."

Der Plan ging auf, Karnath flog mit der DDR-Auswahl zurück in die Sportschule Lindabrunn und hatte am Ende eine Liste mit den Kontaktdaten aller Spieler im Gepäck.

Tapeten mit "großen Ohren"

Darunter auch der Straßenname sowie die Haus-, Etagen- und Wohnungsnummer des Zuhauses der Familie Thom. Nicht einmal 15 Stunden nach dem Abpfiff in Wien steht Calmund vor deren Haustür - "nur fünf Autominuten vom Alexanderplatz entfernt".

Er merkt sofort: Der Stürmer des BFC Dynamo ist sehr an einem Wechsel in die Bundesliga interessiert, will jedoch als Angestellter des von der DDR-Stasi unterstützten Vereins kein Risiko eingehen. "Er ist ein sensibler Junge, vorsichtig und introvertiert. Und die Tapeten hatten natürlich gerade in solch einer privilegierten Gegend große Ohren."

Erlaubnis vom Deutschen Turn- und Sportbund

Calmund hat schnell eine Lösung parat und spielt mit offenen Karten: Schon am nächsten Morgen wird er beim Deutschen Turn- und Sportbund vorstellig. Der sogenannten Ewald-Behörde. "Ich habe um die Erlaubnis für ein Informationsgespräch mit Thom gebeten. Wir wollten den Transfer ja mit Fairplay und Respekt abwickeln."

Das vom führenden Verband in der DDR unterzeichnete Dokument überzeugt schließlich auch Thom. Er unterzeichnet einen Vertrag und ist vier Wochen später der erste Spieler, der offiziell aus der DDR-Oberliga in die westdeutsche Bundesliga wechselt.

Politisch korrekt, aber teuer

Calmund betont im Rückblick: "Wir haben den Verband nicht über den Tisch gezogen." Das Vorgehen sei "politisch abgesegnet" gewesen. Dennoch habe ihm die für damalige Zeit immense Ablösesumme von zwei Millionen Mark Schweißperlen auf die Stirn getrieben.

"Das hat uns schon Bauchschmerzen gemacht, obwohl Vereine aus dem Ausland noch mehr Geld geboten hatten." Letztlich bezahlt Leverkusen - inklusive leistungsbezogener Zugaben - drei Millionen Mark für Thom.

Calmunds Shopping-Tour durch die DDR geht damit erst so richtig los. Wenn ein Akteur von Erich Mielkes Lieblingsklub so rasant zu überzeugen ist, sollte es bei Profis von Dynamo Dresden nicht schwerer sein. Also geht die Reise weiter nach Sachsen. Auch Sammer und Kirsten sollen bei Bayer unterschreiben.

Das "Nein" vom Kanzler

Nach "knallharten Verhandlungen" im Berliner Grand Hotel sind die Transfers beschlossene Sache. Eigentlich. Dann aber funkt die Politik dazwischen. Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich mischt sich ein und stoppt die Verhandlungen mit den Worten: "Sie können die DDR nicht einfach leer kaufen."

Leverkusen und Calmund müssen sich zähneknirschend fügen. "Der Bayer-Konzern ist ein Global Player. Da macht es keinen guten Eindruck, wenn der Verein gleich mehrere DDR-Spieler verpflichtet", erläutert der Ex-Manager.

Folglich muss Calmund den beiden Fast-Neuzugängen wieder absagen. Von der Politik in die Schranken gewiesen, lädt er Sammer und Kirsten kurz vor Weihnachten in ein Hotel am Chiemsee. Um die genauen Beweggründe zu erklären und um beiden nochmals abzusagen.

"Der Calli sollte den Vertrag eigentlich zerreißen. Ob er das getan hat, weiß ich nicht - so schlau wie er ist, hat er ihn bestimmt nur weggesteckt", erinnert sich Sammer.

BVB blauäugig, Calmund handlungsschnell

Der Kontakt zu beiden Spielern bleibt trotz gescheiterter Verhandlungen bestehen. So vermittelt Calli letztlich sogar Sammer nach Stuttgart und gibt Kirsten hilfreiche Tipps. "Bei ihm war es erst ein bisschen Bochum, dann Bremen und letztlich hat er sich für Dortmund entschieden."

Doch der BVB macht einen entscheidenden Fehler. Die Verantwortlichen sind sich ihrer Sache zu sicher, zögern die Unterschrift heraus. "Dortmund hat sich viel Zeit gelassen, um die Ablöse zu drücken", sagt Calmund. Die Borussia macht die Rechnung schließlich schlicht ohne Leverkusen und ohne Calmund.

Noch bevor der Deal unter Dach und Fach ist, bekommt der Manager einen Anruf von seinem Präsidenten Gert-Achim Fischer. "Er sagte mir: 'Wir haben Grünes Licht vom Konzern und der Politik!' Also durfte ich wieder verhandeln."

Entschuldigung an Geyer und Meier

Und Calmund handelt. Nach einem Länderspiel der DDR in Schottland holt er seine beiden Wunschspieler direkt am Flughafen in Schönefeld ab. Er fährt mit ihnen nach Dresden und nimmt die Verhandlungen erneut auf.

Sammer hat sich bereits an den VfB gebunden, doch Kirsten unterschreibt in Leverkusen. 3,5 Millionen Mark muss der Verein zahlen. Und Calmund sich gleich zweimal persönlich entschuldigen.

Bei DDR-Coach Eduard Geyer, und bei BVB-Manager Michael Meier. Der beschimpft ihn derart wüst, "wie ich es ihm gar nicht zugetraut hätte". Calmund aber weiß, dass er richtig gehandelt hat. "Es war nicht die feine Art, aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Im Fußball ist es nun mal so, dass nicht nur die Großen die Kleinen fressen, sondern auch die Schnellen die Langsamen."

Kirsten wichtiger als Ballack und Lucio

Handlungsschnell war der selbsternannte "Rentner mit 13 Jobs" während seiner 28 Jahre bei Bayer Leverkusen immer. Er holte Michael Ballack, Lucio oder Ze Roberto an den Rhein. Doch als seinen Königstransfer sieht er noch heute Ulf Kirsten, "weil der zehn Jahre geblieben ist".

Der heutige Trainer der Bayer-Reserve war dreimal Torschützenkönig der Bundesliga und bester Torjäger der 90er Jahre. Doch ein Meistertitel blieb ihm verwehrt. Wie auch seinem Ziehvater Calmund.

2002: Sammer wird zum Albtraum

Dabei war Bayer mehrmals nah dran. So auch 2002. Als ausgerechnet Sammer als BVB-Trainer den Leverkusenern die schon sicher geglaubte Schale entriss.

Auch an diese Anekdote erinnert sich Calmund wieder.  Er kann damit gut leben, die Tränen von damals, von der besten Bayer-Saison aller Zeiten ohne einen einzigen Titel, sind längst getrocknet. Mit einem Schmunzeln sagt er: "So ist halt der Fußball."

Reiner Calmund und seine Geschichten haben den deutschen Fußball der letzten 20 Jahre zu dem gemacht, was er heute ist.

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