Vettels Niederlage, die ein Sieg war

Sebastian Vettel verlor das Rennen in Montreal, weil er zweimal die Reifen wechselte
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Nach dem Sieg von Lewis Hamilton und Mercedes beim Kanada-GP war das Urteil schnell gefällt: Ferrari hat Sebastian Vettel den ersten Sieg der Formel-1-Saison 2016 mit einer falschen Strategie zunichte gemacht. Doch das stimmt nicht. Die Scuderia hat richtig gehandelt. Nicht Ferrari hat das Rennen in Montreal verloren, Lewis Hamilton hat es gewonnen.

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Sebastian Vettel hat kein Glück. Schon wieder ist ihm ein möglicher Sieg durch die Finger gerutscht. Wie beim Saisonauftakt wählte Ferrari die falsche Taktik für seinen Toppiloten. Wie beim Australien-GP kostete auch in Montreal die Strategie den Sieg.

"Wir haben den Reifenabbau überschätzt", sagte Teamchef Maurizio Arrivabene: "Es war die falsche Entscheidung."

Ferraris Verantwortlicher bemühte sich direkt nach dem Rennen, die Aufregung zu mildern. Er lud die Schuld auf die Schultern des Teams. Er kreidete die verpasste Chance den Ingenieuren an. "Wir brauchen keine größere Geschichte draus machen. Heute haben wir einen Fehler gemacht", so Arrivabene. Nur reicht das?

Australien, Spanien, Kanada. Bei drei von sieben WM-Läufen brachten Ferraris Strategen Vettel um die Siegchance. Dabei passt Kanada eigentlich nicht wirklich in die Reihe.

Ferraris früher Stopp war richtig

Denn Ferraris Entscheidung, Vettel schon in der zwölften Runde zum ersten Reifenwechsel an die Box zu holen, war logisch. Auch wenn der Schachzug letztlich nicht aufging: Sie war richtig, weil Ferraris Daten eine Ein-Stopp-Strategie ausschlossen.

Während des Rennens war es wesentlich kälter als während der Freien Trainings. Diese Kälte mit gerade 15 Grad Celsius Luft- und knapp über 20 Grad Asphalttemperatur führte zu geringerem Reifenbabbau. "Die letzen 30 Runden bin ich einfach flatout gefahren", sagte Vettel nach seiner gescheiterten Vollgasaufholjagd.

Der Stopp während des Virtual Safety Car war klug. Die Boxengasse des Circuit Gilles Villeneuve ist speziell. Die Einfahrt und die Ausfahrt sind kürzer als der Weg, den die Fahrer auf der Strecke zurücklegen. Als Ferrari Vettel zum ersten Reifenwechsel einbestellte, war das ein Vorteil: Hamilton konnte auf der Zielgeraden kaum Gas geben, weil das Rennen unter VSC-Bedingungen gebremst war. Er verlor Zeit, während Vettel sich neue Reifen abholte.

Und hätte Hamilton eigentlich noch mehr Zeit verloren. Die Streckenposten bargen den McLaren-Honda von Jenson Button ungewöhnlich schnell. "Das war eine Überraschung. Die Phase ging ja nur über eine oder anderthalb Runden", so Arrivabene.

Zudem unterband Ferrari mit der Entscheidung einen möglichen Undercut von Mercedes. Vettel hatte den Vorteil der schnelleren Reifen aus seiner Seite, weil er direkt vor den Williams wieder herauskam.

Zusammengefasst: Ferrari hat den Stopp für Vettel perfekt berechnet.

Vettel trotz Niederlage bestens gelaunt

"Ich bin kein großer Fan davon irgendwem oder irgendwas die Schuld zuzuschieben. Der Reifenabbau war nicht so hoch wie erwartet", meldete sich der Deutsche schließlich selbst zu Wort.

Vettel versprühte nach dem Rennen ausschließlich gute Laune. Der vierfache Weltmeister akzeptierte die Niederlage. Er erweckte eher den Eindruck, er hätte den Großen Preis von Kanada gewonnen.

Weil Mercedes gut gepokert hatte? Das Risiko, das die Silberpfeile mit der Ein-Stopp-Strategie gingen, war hoch. 46 Runden lang hielt es Hamilton nach seinem Boxenstopp auf den weichen Pirelli aus. Stärker war seine Leistung allerdings im Stint nach dem Start einzuschätzen. Erst nach 24 Runden wechselte er die Reifen. Doppelt so lange wie Vettel hielt er es auf der Strecke aus.

Hamiltons Ritt auf der Gummiklinge

"Ich war mir nicht sicher, wie lange der Ultrasoft halten würde. Ich habe Graining gesehen, als ich hinter Seb war. Deshalb war ich etwas nervös", gab Hamilton zu.

Der Ritt auf der Gummiklinge ging gut aus. Hamilton wiederholte ihn nach dem Stopp mit den soften Reifen. Wieder bildeten sich Blasen, deutlich zu sehen auf dem linken Vorderreifen. Mercedes fährt mehr Sturz als Ferrari, belastet die Slicks auf der Innenseite dadurch stärker, bringt sie aber auch leichter ins optimale Temperaturfenster.

Knapp sechs Sekunden betrug Vettels Rückstand nach seinem zweiten Stopp. Zu viel. "Immer wenn Sebastian aufholte, hatte ich genug in der Hinterhand, um den Vorsprung zu halten", erklärte Hamilton.

Hatte Ferrari eine andere Option?

"Ich war überrascht, wie lange der Supersoft gehalten hat und dann hat der Soft bis zum Ende gehalten. Wir hätten weiterfahren können", berichtete selbst Vettel nach dem Rennen. Wie lange genau? Unklar.

Doch hätten die Ingenieure der Scuderia anders handeln müssen? Ferrari hätte beim ersten Stopp statt Supersoft den etwas härteren Soft wählen können. So hätten die Strategen sehen können, wie lange der Satz durchhält. Nur: Damit wäre Vettel angreifbar gewesen. Hamilton wäre mit zwei Stopps und einer weicheren Mischung vorbeigefahren.

Letztlich verschwendete Ferrari keinen Gedanken an ein "Was wäre wenn". Die Zeit bis zur Premiere des "Europa-GP" in Aserbaidschan am kommenden Wochenende ist zu kurz. Ohnehin fiel das Fazit für die Truppe aus Maranello positiv aus, der zweite Platz fühlte sich an wie ein Sieg.

"Insgesamt war es ein großartiges Wochenende für uns", schloss Vettel und gab an, erstmals in der Formel-1-Saison 2016 sowohl den Samstag als auch den Sonntag problemfrei absolviert zu haben: "Wir hatten bei den letzten Rennen ein paar Probleme. Jetzt sehen wir, was das Auto leisten kann. Wir haben es entfesselt."

Die Formel 1 nähert sich der Normalität

Der überarbeitete Turbo, der in Kanada erstmals im Heck arbeitete? Ein voller Erfolg. Im Qualifying durchfuhr Vettel alle drei Zeitschranken mit der zweithöchsten Geschwindigkeit. Bei der Grenze von Sektor 1 zu Sektor 2 war nur Hamilton schneller, bei der zweiten Messung Pascal Wehrlein, auf dem Zielstrich Felipe Massa. Bei der offiziellen Geschwindigkeitsmessung auf der langen Geraden fehlten Hamilton 4,5 km/h zum Ferrari, Rosberg immerhin 2,5 km/h.

Die Motorenstrecke von Montreal hat gezeigt, dass die Scuderia zumindest im Bereich der Power Unit mit Mercedes gleichgezogen hat. Wie gut Ferrari mittlerweile aerodynamisch aufgestellt ist, wird sich spätestens in drei Rennen zeigen, wenn mit Silverstone die nächste Chassis-Referenzstrecke auf dem Plan steht.

Die wichtigste Feststellung des Wochenendes hatte Mercedes' Motorsportdirektor Toto Wolff schon am Samstag ausgesprochen. "Wir nähern uns der Normalität", so der Österreicher: "Wir waren zwei Jahre lang in der glücklichen Situation das dominante Team zu sein. Jetzt schrumpfen die Lücken zwischen den drei oder vier Teams an der Spitze. Das ist der Grund, aus dem wir alle hier sind."

Mercedes ist verwundbar

Die Herausforderung, der direkte Kampf um die Spitze - die Formel 1 hat ihn zwei Rennen in Folge wieder genossen. Fehler, Schwäche, Unzuverlässigkeit - auch wenn Mercedes das theoretisch beste Paket hat, Unzulänglichkeiten werden wieder bestraft.

In Kanada kostete Lewis Hamilton abermals die überhitzende Kupplung beinahe den Sieg. "Ich bin froh keinen Fehler gemacht zu haben", sagte Hamilton nach einem Meeting mit den Ingenieuren: "Aber die Kupplung überrumpelt uns. Beim Vorstart war es fantastisch: Ich habe die Kupplung kommen lassen und es lief perfekt. Perfektes Drehmoment, keine durchdrehenden Räder. Dann fuhr ich rum, habe genau das gemacht, worum das Team mich bat und dieses verdammte Ding ist einfach gerutscht."

Was bleibt? Mercedes ist verwundbar. Ferrari ist dran. Und Red Bull lauert auf die nächste Aero-Strecke.

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