30.12.2010 um 12:52 Uhr
Geschrieben von bennysemmler
Kratzer am Kult - na und!
Eine stattliche Zeit schien die Rollenverteilung im Stadion geklärt. Die Südtribune ist im Zuge des Umbaus zum Kopf der aktiven und zumeist jungen Fanszene aufgestiegen. Dort stehen die Beschließer und Bestimmer. Sie schreiben den Kurs und die Choreos vor.
Die Gegengerade ist als gefühlvoller Bauch so eine Art Stimmungsbarometer. Sie genießen am liebsten das große Ganze und scheinen wenig von drakonischen Forderungen gegenüber der Vereinsspitze zu halten.
Auf der (alten) Haupttribüne bestaunte seit jeher das greisenhafte Publikum den anderen Klub. Diese Fans sind teilweise angegraut und in die Jahre gekommen - aber nicht weniger euphorisch.
Das Arrangement untereinander galt seit Ewigkeiten als typisch Millerntor.
Ein Werber trifft hier die Zecke. Zottelige Kneipenwirte aus dem Stadtteil glühen vor dem Stadion mit zotteligen Studenten vor. Ein bisschen Milieu, dazu die lieben Millionäre – Kultklub halt.
Nur: Der Kult hat einen Feind. Und der hört auf den Namen Kommerz. Schon seit Jahren, im Grunde mit der bundesweit berühmten Retteraktion 2003, gehört dieser verhasste Teil des Kapitalismus zum Verein – fast so wie der Kult. Der Verein hatte diese Komplikation aber stets im Griff. So schien es.
Doch am 18. Dezember zog sich der FC St. Pauli beim viel zitierten Spagat zwischen Kult und Kommerz erstmals ein Zerrung zu. Minuten vor dem Schlusspfiff weigerten sich Zuschauer mit sehr teuren Karten, das Spiel zu Ende zu schauen. Sie zogen sich nach dem vierten Mainzer Treffer in der 83. Minute lieber in den warmen Bauch des Stadions zurück und tranken Tee.
Dazu flimmerten auch noch böse, blaue LED-Wände mit Grußtexten ("Ich bin Flo und grüße alle Fans des FC St. Pauli") im Stadion. Die Mannschaftsaufstellung wurde von einem blöden Sponsor präsentiert. Und dann gab es noch so ein bisschen buntes und bundesligaübliches Beiwerk.
Die Folge: Der Kult hat nun Kratzer. Und nun knallt es. Und zwar gehörig.
Die aktive Fanszene, die Gruppe "USP" macht nämlich mobil im großen Stil. Kurz vor Weihnachten zimmerten sie mit großem Geschrei die "Sozialromantiker-Initiative" ins Netz.
Unter der Überschrift "Es reicht!" wendet sich der Fanchor nun vehement an die Vereinsführung und verlangt mitunter Erstaunliches.
Die Forderungen:
- Keine weiteren, zusätzlichen Werbemassnahmen in den vom Fankongress verabschiedeten Zeitfenstern!
- Keine weiteren Werbeflächen auf den Tribünen!
- Kündigung von Susis Showbar Loge!
- Keine LED-Anzeigen mehr im Stadion und generell keine weiteren audiovisuellen Plätze für irgendeine Werbung während der 90 Minuten!
- Rückbau von Teilen der Business-Seats auf der neuen Haupttribüne und Umwandlung in bezahlbare Sitzplätze!
- Bereitstellung von Farbe damit die Kinder der Stadionkita ihre grauen Wände in Eigenverantwortung anmalen können!
- Keine weiteren bloßen Lippenbekenntnisse des Präsidiums und der Vermarktung, wir sind es leid!
Weiteres aus der Abteilung Attacke: "Wir werden Aktionen anzetteln die euch nicht mal im Traum einfallen … Wir werden Sponsoren mit Mails bombardieren, mit der Presse arbeiten, eine ausserordentliche Mitgliederversammlung beantragen."
Das ganze Stück gibt es hier: http://www.sozialromantiker-stpauli.de/wordpress/
Knapp 2500 Anhänger folgen der Aktion bislang. Die linkseingefärbte "taz" nutzt seit dieser Woche Begriffe wie Boykott und pusht die Aktion.
Wie schön, dass es auch die andere Seite gibt. Denn nicht wenige Fans schütteln auch den Kopf und wundern sich über den rigorosen Kurs der wildgewordenen "Sozialromantiker".
"Sie haben eben einen Hang zum Größenwahn" sagt eine ehemalige Aktive, und erklärt: "Viele USP-Mitglieder finden im Vereinsleben einen gewissen Halt und funktionieren vor allem in der Gruppe. Das Mitreden bei einem so großen Verein gibt ihnen eine nicht zu unterschätzende Form der Macht."
Eine Menge Leute, die ebenfalls Dauerkartenbesitzer sind oder in den Kneipen die Daumen drücken, teilen diese Meinung und sehen die Club-Werte bei Weitem nicht derart bedroht, wie es der gemeine Ultra predigt. Auch die Einzigartigkeit ist nicht gefährdet, sagen die, die den Verein zwar abgöttisch lieben, aber deutlich gelassener mit der Entwicklung umgehen.
Andersrum wächst die Kritik an der fanatischen Anhängerschaft. Einige Alteingesessene entwickeln sogar leichte Aversionen gegen diese Form der Unterstützung.
Aktuelle Zitate von der anderen Seite:
"Lautstarker Support ist toll. Aber Chöre anzustimmen, ohne mutmaßlich einen richtigen Blick gen Spielfeld zu richten, ist ebenfalls deplatziert."
"Wenn 17-Jährige bestimmen, wie man zu diesem besonderen Verein zu stehen hat, muss man kotzen."
"Sie sehen sich als Überfans. Es wirkt, als würden sie am liebsten den Leuten jeglichen Zutritt zum Stadion verweigern, die anders denken, weniger Fan sind und vielleicht "nur" mal Fußball gucken wollen."
Fraglos: Die Stimmungslage ist hier und da schon bedenklich. Und der ein oder andere Ultra nervt genauso wie die glatten Männer mit Money. Doch bei allem Kult-und Kommerzgeschrei: Es bedarf eben auch kein Mathematikstudium um zu erkennen, dass ein Bundesligaverein zum Geldverdienen verpflichtet ist, den Personalstab mal erweitern möchte und die Infrastruktur vorantreiben muss. Kurz und gut: Es gibt schon noch ein paar mehr Dinge als 90 Minuten Party, starke Gesänge und Kultgeschwätze.
Und nebenbei: Es ist nur Fußball.
Die Gegengerade ist als gefühlvoller Bauch so eine Art Stimmungsbarometer. Sie genießen am liebsten das große Ganze und scheinen wenig von drakonischen Forderungen gegenüber der Vereinsspitze zu halten.
Auf der (alten) Haupttribüne bestaunte seit jeher das greisenhafte Publikum den anderen Klub. Diese Fans sind teilweise angegraut und in die Jahre gekommen - aber nicht weniger euphorisch.
Das Arrangement untereinander galt seit Ewigkeiten als typisch Millerntor.
Ein Werber trifft hier die Zecke. Zottelige Kneipenwirte aus dem Stadtteil glühen vor dem Stadion mit zotteligen Studenten vor. Ein bisschen Milieu, dazu die lieben Millionäre – Kultklub halt.
Nur: Der Kult hat einen Feind. Und der hört auf den Namen Kommerz. Schon seit Jahren, im Grunde mit der bundesweit berühmten Retteraktion 2003, gehört dieser verhasste Teil des Kapitalismus zum Verein – fast so wie der Kult. Der Verein hatte diese Komplikation aber stets im Griff. So schien es.
Doch am 18. Dezember zog sich der FC St. Pauli beim viel zitierten Spagat zwischen Kult und Kommerz erstmals ein Zerrung zu. Minuten vor dem Schlusspfiff weigerten sich Zuschauer mit sehr teuren Karten, das Spiel zu Ende zu schauen. Sie zogen sich nach dem vierten Mainzer Treffer in der 83. Minute lieber in den warmen Bauch des Stadions zurück und tranken Tee.
Dazu flimmerten auch noch böse, blaue LED-Wände mit Grußtexten ("Ich bin Flo und grüße alle Fans des FC St. Pauli") im Stadion. Die Mannschaftsaufstellung wurde von einem blöden Sponsor präsentiert. Und dann gab es noch so ein bisschen buntes und bundesligaübliches Beiwerk.
Die Folge: Der Kult hat nun Kratzer. Und nun knallt es. Und zwar gehörig.
Die aktive Fanszene, die Gruppe "USP" macht nämlich mobil im großen Stil. Kurz vor Weihnachten zimmerten sie mit großem Geschrei die "Sozialromantiker-Initiative" ins Netz.
Unter der Überschrift "Es reicht!" wendet sich der Fanchor nun vehement an die Vereinsführung und verlangt mitunter Erstaunliches.
Die Forderungen:
- Keine weiteren, zusätzlichen Werbemassnahmen in den vom Fankongress verabschiedeten Zeitfenstern!
- Keine weiteren Werbeflächen auf den Tribünen!
- Kündigung von Susis Showbar Loge!
- Keine LED-Anzeigen mehr im Stadion und generell keine weiteren audiovisuellen Plätze für irgendeine Werbung während der 90 Minuten!
- Rückbau von Teilen der Business-Seats auf der neuen Haupttribüne und Umwandlung in bezahlbare Sitzplätze!
- Bereitstellung von Farbe damit die Kinder der Stadionkita ihre grauen Wände in Eigenverantwortung anmalen können!
- Keine weiteren bloßen Lippenbekenntnisse des Präsidiums und der Vermarktung, wir sind es leid!
Weiteres aus der Abteilung Attacke: "Wir werden Aktionen anzetteln die euch nicht mal im Traum einfallen … Wir werden Sponsoren mit Mails bombardieren, mit der Presse arbeiten, eine ausserordentliche Mitgliederversammlung beantragen."
Das ganze Stück gibt es hier: http://www.sozialromantiker-stpauli.de/wordpress/
Knapp 2500 Anhänger folgen der Aktion bislang. Die linkseingefärbte "taz" nutzt seit dieser Woche Begriffe wie Boykott und pusht die Aktion.
Wie schön, dass es auch die andere Seite gibt. Denn nicht wenige Fans schütteln auch den Kopf und wundern sich über den rigorosen Kurs der wildgewordenen "Sozialromantiker".
"Sie haben eben einen Hang zum Größenwahn" sagt eine ehemalige Aktive, und erklärt: "Viele USP-Mitglieder finden im Vereinsleben einen gewissen Halt und funktionieren vor allem in der Gruppe. Das Mitreden bei einem so großen Verein gibt ihnen eine nicht zu unterschätzende Form der Macht."
Eine Menge Leute, die ebenfalls Dauerkartenbesitzer sind oder in den Kneipen die Daumen drücken, teilen diese Meinung und sehen die Club-Werte bei Weitem nicht derart bedroht, wie es der gemeine Ultra predigt. Auch die Einzigartigkeit ist nicht gefährdet, sagen die, die den Verein zwar abgöttisch lieben, aber deutlich gelassener mit der Entwicklung umgehen.
Andersrum wächst die Kritik an der fanatischen Anhängerschaft. Einige Alteingesessene entwickeln sogar leichte Aversionen gegen diese Form der Unterstützung.
Aktuelle Zitate von der anderen Seite:
"Lautstarker Support ist toll. Aber Chöre anzustimmen, ohne mutmaßlich einen richtigen Blick gen Spielfeld zu richten, ist ebenfalls deplatziert."
"Wenn 17-Jährige bestimmen, wie man zu diesem besonderen Verein zu stehen hat, muss man kotzen."
"Sie sehen sich als Überfans. Es wirkt, als würden sie am liebsten den Leuten jeglichen Zutritt zum Stadion verweigern, die anders denken, weniger Fan sind und vielleicht "nur" mal Fußball gucken wollen."
Fraglos: Die Stimmungslage ist hier und da schon bedenklich. Und der ein oder andere Ultra nervt genauso wie die glatten Männer mit Money. Doch bei allem Kult-und Kommerzgeschrei: Es bedarf eben auch kein Mathematikstudium um zu erkennen, dass ein Bundesligaverein zum Geldverdienen verpflichtet ist, den Personalstab mal erweitern möchte und die Infrastruktur vorantreiben muss. Kurz und gut: Es gibt schon noch ein paar mehr Dinge als 90 Minuten Party, starke Gesänge und Kultgeschwätze.
Und nebenbei: Es ist nur Fußball.
Aufrufe: 7786 | Kommentare: 25 | Bewertungen: 16 | Erstellt:30.12.2010
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KOMMENTARE
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30.12.2010 | 14:43 Uhr
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Nekro :
Ihr kennt auch nur die erste Liga...in der 2. & 3.Liga ist sowas mittlerweile auch fast Standart...in Dresden wird das Stadion in "Glücksgas-stadion" umbenannt. In Cottbus will man das berühmte Stadion der Freundschaft abschaffen etc. Pauli ist für mich schon lang Komerz. In jedem Sportcheck hängen hier Pauli Shirts neben Dynamotrikot´s...
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30.12.2010 | 14:35 Uhr
0
bfproductions : ...
ich sehe das Problem nicht nur bei St. Pauli sondern bei allen "Traditionsvereinen" siehe Dortmund, Schalke, HSV
zwar bei jedem Verein in etwas anderen belangen aber im Grunde doch gleich. Auf der einen Seite die Suche nach der Finanzierung um möglichst die Infrastruktur zu verbessern und sportlich langfristigen Erfolg zu haben, andererseits die "eingesessen Fans" und "Romantiker" sowie die Ultra-Szene die oft den Kommerz verabscheut. Hier die richtige Lösung zu finden ist sehr schwer. Ich denke St. Pauli ist auf einen guten weg denn Sie kommerzialisieren ihren kult, was sie an und für sich schon wieder kultig macht
Ich sehe da schon eher Probleme bei Schalke oder dem HSV, wo seit einigen Jahren in der Führungsetage murks betrieben wird.
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30.12.2010 | 14:34 Uhr
0
Josh9 :
St. Pauli ?ist das nicht dieses Modelabel? ;)
hehe
ne wirklich sehr gut geschrieben und die Gräben zwischen Ultras oder selbsternannten Elitefans und "Normalos" gibt es ja in fast jedem Verein.
Bei St.Pauli lodert ja schon länger etwas mehr.
Da war doch auch mal was mit Einlasssperre der USP etc,
Ist schon schwierig diesen Spagat zwischen urigem Fussball und Kommerz hinzubekommen, vor allem wenn man 1.BL spielen will.
Da muss man sich eben die Frage stellen, will man das ?
Ansonsten ist es wie der honk ja schon sagte.
Selbst der Begriff Kult ist schon kommerzialisiert und ich selbst bekomme schon pusteln, wenn ich diesen Begriff nur höre. Gruß nach Köpenick. ;)
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30.12.2010 | 13:09 Uhr
-1
xxlhonk :
Willkommen im wahren Leben!Oder auf dem harten Boden der Realität!
Das musste ja kommen, denn FCStP hat genau jetzt diesen Interessenskonflikt zu lösen.
Kommerzialisieren und vllt. Erstligatauglich bleiben, oder back to The roots mit allen Konsequenzen.
Wobei der Verein ja schon sehr viel kommerzieller ist, als man es zugeben möchte.
Man schaue sich nur die Merchandising Umsätze an...
Und was die USP angeht.
Wenn man denen nicht jetzt die Grenzen aufzeigt, wird das alles noch viel schlimmer.
Und man muss ihnen die Grenzen zeigen, denn sie sind nur ein kleiner Teil des Vereins, der allerdings gerade dabei ist, für einen immensen Imageschaden zu sorgen.
Und Image war bisher das höchste Gut der Kitzkicker!
Benny, ein sehr feiner und ausgewogener Blog.
Ich bin mal auf die Resonanz hier gespannt!!!
Ich mag den Blog und die Diskussion die jetzt endlich kommen muss, sehr!
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Anders geht es nicht, nur so kriegt man Geld, damit muss man klarkommen.
Son blöder Sponsorspruch und LED Reklame ist ja wohl zu ertragen.
Wenn Leute das Stadion frühzeitig verlassen und es zu viele Logenplätze gibt, die niemals alle verkauft werden, da verstehe ich den Ärger, aber das andere ist Wunschdenken....Kommt in der Gegenwart an, überall wo es geht muss man Kohle rausholen.
Guckt mal amerikanisches Sportfernsehen, da wird alles einzeln präsentiert, und in den Stadien dann sicherlich auch, man gewöhnt sich dran und im Endeffekt wird der Verein dadurch gestärkt.