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Blogpokal 2014/2015


Gründer: RoterBulle92 | Mitglieder: 25 | Beiträge: 5
Von: Broich
16.02.2015 | 3594 Aufrufe | 4 Kommentare | 7 Bewertungen Ø 10.0
Blogpokal 14/15
Konterfei des Grauens
"... es wäre besser gewesen, die Entwicklung vom Homo Erectus zum Homo Sapiens hätte niemals stattgefunden."

Die folgende Erzählung ist zwar fiktiv, beruht aber auf recherchierter Grundlage. Es geht nicht um Genauigkeit in historischem Kontext, sondern darum, das Unvorstellbare so zu schildern, dass es niemals in Vergessenheit gerät. Denn das ist es was wir niemals tun dürfen: Vergessen, was auf dem Boden, auf dem wir stehen, vor nicht einmal 100 Jahren geschehen ist.

Es ist wie immer. Kälte, bohrender Hunger, Schwielen an den Händen und Blasen an den Füßen. Und trotzdem: Wie jeden Morgen Betten bauen und hoffen, dass die Lagerkontrolleure nichts zu beanstanden haben. Denn gerade an diesem Tag im Februar 1944 will Isaak Stern auf keinen Fall ins Visier der Nazis geraten. Es ist Fußball-Tag. Für zweimal 35 Minuten ruht dann die Arbeit und im Hinterhof der Kaserne geht es um Tore. Isaak arbeitet im Munitionswerk des KZ Auschwitz, er ist Jude und Mitglied der Häftlings-Mannschaft. Eines Teams, das in unregelmäßigen Abständen gegen SS-Wachleute antritt. Mitten im Ort des Grauens. Im Herzen des Bösen. Im Kernstück menschlicher Abscheulichkeit. Symbolisch liegt das Spielfeld direkt vor den Krematorien. Und unweit der ungeheuerlichsten Erfindung der Menschheitsgeschichte: Der Gaskammern von Auschwitz dem Lager, das etwa 1,1 Millionen Menschen das Leben kostete.

Es geht zum Appellplatz. Abgerichtete Hunde an der kurzen Leine mit sich führend marschieren SS-Schergen die Reihen der abgemagerten Häftlinge entlang. Ist ein Knopf abgerissen oder hat der Ärmel des gestreiften Anzugs einen Riss - dann werden die Betroffenen heraus gezogen und nach dem strengen Strafenkatalog von Theodor Eicke verurteilt. Zu Pfahlhängen oder Einzelhaft im Bunker, einem Gefängnis im Gefängnis, in dessen dunklen Zellen man oft weder sitzen, noch liegen konnte. Isaak hat Glück, der Mann mit dem grauen Haar und dem bellenden Hund an der Leine geht wortlos an ihm und seinem guten Freund Adam Borowski vorbei. Unweit der beiden kann sich ein alter Mann, bestehend aus nicht mehr als Haut und Knochen, kaum noch auf den Beinen halten. Der SS-Mann zückt ruhig seine Waffe, hält sie dem Mann an den Kopf und drückt ab. Keiner schreit, die Häftlinge des Nazi-Regimes wissen, dass ein Laut den Tod bedeutet. Nazi-Gehilfen, nicht älter als Mitte 20, eilen heran und zerren die Leiche weg.

Es ist das Jahr 1944, Isaak und seine Leidensgenossen wissen nicht, dass für sie die Hölle auf Erden bald ein Ende haben wird. Arbeit macht frei als makabere Prophezeihung, als düsteres Orakel, das einem Tränen in die Augen treibt.

Als Isaak und Adam ihre Arbeit erledigt haben, müssen sie wie immer den Marsch von ihrer Baracke zum Topf mit der dünnen Brühe antreten. Sie haben dabei wie alle Juden den weitesten Weg. Na klar, sie sind nicht mehr als Abschaum in den Augen der braunen Einheit, die Deutschlands Vergangenheit ein tief schwarzes Kapitel beschert hat. Abschaum, der immerhin kriegswichtige Patronen herstellt. Für die überall tobenden Fronten des zweiten Weltkriegs

Nach den wenigen Löffeln Suppe macht ein KZ-Mann die Ankündigung, dass die Arbeit für einige Zeit ruhen werde, weil Fußball gespielt werden würde.

Absurdität in ihrer reinsten Form, ekelerregender Spaßkonsum im Vorhof der Hölle. Wie die SS-Männer rauchend auf ein so unschuldiges Spiel wie den Fußball warten. Gegen Männer, die sie töten wollen. Einen nach dem anderen.

Entzweiung, Demütigung, Tod

Isaak stammt aus Wien, er ist der Sohn eines Händlers, Jugendstil-Villa, Stuck, ein Literatur-Zimmer und die brillentragenden Freunde seines Vaters. Seine Kindheit war von Renomee und Bildung bestimmt. Latein, Altgriechisch. Mittwochs jedoch, immer nach dem Cello-Unterricht entfloh er den hohen Decken seines Heimathauses und traf sich mit seinen Freunden zum Fußball spielen. Norderei-Eck gegen die Wäschergasse. Was waren das für Spiele. Mit blutenden Knien und verschwitzten Haaren kam er dann kurz vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Glücklich und in Erwartung des obligatorischen Monologs seines Vaters.

Das waren die Tage bevor das Grauen die Familie Stern mit festen Klauen ergriff, mit sich riss, entzweite und demütigte. Schon bei der Deportation waren Isaaks Schwestern von ihm getrennt worden. Die jüngste, Sara, war bereits tot, wo die anderen beiden waren wusste Isaak nicht. Sein Vater war als Gelehrter nach Theresienstadt gebracht worden, wo er in der KZ-Verwaltung arbeitete . Er sollte den Holocaust als Einziger überleben. Und Isaaks Mutter, die war etwa drei Wochen als Arbeiterin auf dem Feld eingesetzt worden - und dann ausradiert worden. Wie ein Nummer und kein Mensch. Rachel Stern, Nummer 7682.

Unvorstellbar: In fast allen Konzentrationslagern wurde Fußball gespielt.

Bildquelle: http://diepresse.com/images/uploads/8/8/7/4647047/BEit-Theresienstadt_1422211330721115.jpg

Isaaks Familie war jetzt Adam, ein junger Pole mit abstehenden Locken und einem ehemals schönen Gesicht, dessen eingefallene Wangen ihm jetzt etwas gespensterhaftes verliehen. Ohne Adam wäre Isaak schon längst tot. Verhungert, gestorben an Gram oder Schwäche. Adam war es, der über seine Onkel Kontakte zu politischen Gefangenen hatte, die manchmal ein paar Brotrinden hatten oder passende Schuhe oder ein zweites paar Socke. Adam war es gewesen, der Isaak die Regeln erklärt hatte. Unauffällig bleiben, die KZ-Wärter immer mit dem ...-Gruß grüßen, niemals drängeln und immer Ordnung bewahren. Beim Betten bauen, beim Essen holen. Und nur niemals jiddisch sprechen. Adam war es auch gewesen, der Isaak, obwohl der Jude war, als Fußball-Talent gepriesen hatte. So hatte Isaak den Platz im Team bekommen und bekam an Spieltagen abends immer eine doppelte Ration zu Essen. Adam war es, der in den Boden seiner Tasse ein kleines Schachbrett geritzt hatte, das den jungen Männern half nicht wahnsinnig zu werden, während um sie herum der Tod und der Wahnsinn tobte.

Das Spiel begann, die Inhaftierten waren technisch besser, aber entkräftet. Am Rand drängten sich dicht die Zuschauer, die stumm und mit leerem Blick dem Wettkampf folgten.

"Während der Fußballkampf am schlimmsten tobte, kamen zwei Gefangene, die eine Leiche auf einer Bahre trugen. Sie setzten die Leiche hin, zündeten ihre Stummel an und begannen, dem Kampf zu folgen. Als der spannende Augenblick vorbei war, gingen sie zur Leiche zurück und setzten den Transport zum Leichenhaus fort", beschreibt Nobelpreisträger Fridtjof Nansen eines der makabren Fußball-Spiele im KZ Sachsenhausen.

Während des Spiels draußen plötzlich Hektik. Isaak starrt in die Menge und sieht wie Nazis Adam in Richtung der Rampe zerren. Er rennt los, schiebt ausgemergelte Leiber zur Seite. SS-Männer treiben Menschen zur Rampe für die Kammern, Adam ist einer von ihnen. Adam schreit Isaaks Namen, er kämpft gegen die ihn weiter drückenden Körper an. Er schafft es durch eine Lücke zu schlüpfen. Es fällt ein Schuss. Adams sinkt getroffen zu Boden, Blut rinnt aus seinem Mund. Dann liegt er still da. Er ist tot. Eine weitere Nummer.

Nie wieder!

Isaak schreit stumm. Er ballt seine langen Finger zu Fäusten. Dann rennt er los. Zur Rampe, zu den Mördern des einzigen Familienmitglieds, das ihm geblieben ist. Hinter ihm blasen die Krematorien Asche in den Himmel über Auschwitz und in seinem Rücken geht der makabre Zweikampf auf dem Fußballplatz weiter. Die starren und kahlrasierten Köpfe der Insassen auf der Rampe, die jetzt zu Tausenden in die Gaskammern geschickt werden bilden ein Konterfei des Grauens. Es ist 1944. Isaak ist Jude und inhaftiert im KZ Auschwitz. Er erreicht einen SS-Mann. Seine Faust trifft ihn am Hinterkopf. Dann wird Isaak von starken Händen ergriffen und fort getragen. Von der Rampe, vom leblosen Körper seines besten Freundes.

Es ist 1944 und Isaak ist Jude. Er hat so eben den Freitod gewählt. Den einzigen Ausweg aus dem Vernichtungslager. Der frühere Tod im Vergleich zum qualvollen späteren. Was heute unbegreiflich erscheint, war vor weniger als 100 Jahren auf europäischem Boden Realität. Es fehlen einem die Worte, nur sechs einzelne kann man irgendwie hervor pressen: So etwas darf nie wieder passieren!

Es ist nur schwer zu glauben, aber in fast allen Konzentrationslagern wurde Fußball gespielt. Das KZ Theresienstadt hatte sogar eine eigene Liga. Hintergrund war, dass die Nazis mehr und mehr die Arbeitskraft der inhaftierten Menschen benötigten. Die KZs wurden als Wirtschaftsunternehmen verstanden, und die Rüstungsindustrie brauchte sie, sagt die Historikerin Springmann. Bis zu dieser Neuausrichtung hatte man in den Lagern unter Sport vor allem demütigende Übungen begriffen, etwa das Robben im Matsch, "Auf und Nieder!" brüllende SS-Leute, Froschhüpfen oder Entengang. Dann aber bekam er eine neue Bedeutung, wie der österreichische Historiker Rudi Leo sagt. So wurde auf Anweisung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, eine Art Prämiensystem für Häftlinge geschaffen, ein System aus Gunst und Strafe, wie Veronika Springmann es beschreibt. Und zur Gunst, die die Nazis vor allem jungen, kräftigen und männlichen Häftlingen gewährte, gehörte auch der Sport. In Auschwitz hat Springmann außer für Fußball auch Belege für Handball und Turnen gefunden. (Quelle: 11 Freunde, http://www.11freunde.de/artikel/fussball-konzentrationslagern am 16.02.15)

In stillem Gedenken an die 6,3 Millionen Opfer des Holocaust. Der größten Gräueltat der Menschheitsgeschichte, einer Tat, die den Glauben manifestiert, dass es besser gewesen wäre, die Entwicklung vom Homo Erectus zum Homo Sapiens hätte niemals statt gefunden.

ø 10.0
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KOMMENTARE
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Schnumbi
17.02.2015 | 18:30 Uhr
4
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Schnumbi : 
17.02.2015 | 18:30 Uhr
0
Schnumbi : 
Lieber Broich ich sage einfach nur danke für diesen Text. Gerade aus geschichtlicher Sicht darf so etwas einfach nicht in Vergessenheit geraten.

Mir ist es völlig, egal ob dies ein Thema für den Blogpokal ist oder nicht. Ich bin einfach froh, dass ich diesen Text lesen konnte.

Vielen Dank und etwas sprachlos bleibe ich zurück.
4
Voegi
MODERATOR
17.02.2015 | 14:34 Uhr
3
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Voegi : 
17.02.2015 | 14:34 Uhr
0
Voegi : 
ein bemerkenswertes duell, das diese woche kein duell ist. zwei tolle texte, jeder auf seine weise.

finde es bemerkenswert, wie ihr damit beide umgeht. nachdem es diese woche also keinen sieger geben wird/geben kann, fände ich es persönlich am besten, ihr macht eine neuauflage (vllt in 2 wochen); das erschiene mir die beste lösung.

falk und ich haben uns übrigens entschieden, beide texte anzuteasern (das haben sie verdient), aber jeweils ohne verweis auf den blogpokal; sondern ganz einfach jeden als text für sich. hoffe, ihr seid damit einverstanden.
3
rudeloy
16.02.2015 | 14:41 Uhr
1
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rudeloy : 
16.02.2015 | 14:41 Uhr
0
rudeloy : 
Mit dem Thema hast du die nächste Runde gebucht. Lesen werde ich leider erst später können. Blog folgt dann auch
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Broich
16.02.2015 | 13:53 Uhr
1
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Broich : 
16.02.2015 | 13:53 Uhr
0
Broich : 
Dies ist mein Beitrag zum BP, dieses Mal schon etwas früher, da ich von 15.00 Uhr-24.00 Uhr nicht zu Hause sein werde.

rudeloys Beitrag erscheint in Kürze hier:

Das heikle Thema Holocaust soll niemanden dazu bewegen seine Stimme hier zu lassen. Bitte entscheidet frei von Bürde welchen Beitrag Ihr besser fandet - und das im Rahmen des Blogpokals.
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