Es läuft die vierte Minute der Nachspielzeit, und David Alaba atmet tief durch. 1:2 liegen seine Österreicher im Hintertreffen, beim WM-Qualifikationsspiel in Schweden. Aber es gibt noch einmal Freistoß. Die Möglichkeit des ruhenden Balles, die letzte Chance, ein ganzes Stadion pfeift, doch Alaba kennt das. Er steht beim FC Bayern München unter Vertrag, da ist die gelebte Antipathie quasi in der Vereinssatzung festgezurrt. Also, Konzentration jetzt. Gelingt der Ausgleichstreffer in Stockholm, dann "lebt der Traum" weiter, wie er selbst vor der Partie gemeint hat. Alaba läuft an, die Fans pfeifen noch lauter, und der Ball fliegt in Richtung Toreck.
Es ist das, was den Fußball oft so schön und manchmal so schrecklich macht; so reizvoll und so unbarmherzig. Es sind diese Nuancen, diese verdammten Zentimeter, die über Sieg und Niederlage entscheiden können - und es meistens tun. So verfehlt David Alabas Freistoß den linken Pfosten. Hauchdünn. Knapp vorbei ist auch daneben, eine alte, abgedroschene Binsenweisheit, die im Moment des Nackenschlags furchtbar taktlos erscheint. Knapp vorbei am Tor, knapp vorbei am Remis, knapp vorbei an Brasilien. Als David Alaba realisiert, aus welchem Traum es ihn und seine Teamkameraden reißt, werden seine Augen feucht.
"Die Enttäuschung ist riesig", flüstert er in die Mikrofone. Schon ein Unentschieden hätte alle Aussichten auf die Playoffs aufrechterhalten, ein Sieg beim skandinavischen Rivalen wäre nahezu gleichbedeutend mit dem zweiten Gruppenrang gewesen. Aus eigener Kraft qualifizierte sich Österreich letztmalig 1998 für ein Turnier, die Weltmeisterschaft in Frankreich, da war Alaba sechs Jahre alt und kickte beim SV Aspern im 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt. Wie sich die Zeiten ändern.
Immer zwei Stufen auf einmal
Wer David Alaba noch nie reden gehört hat, wird vermutlich schmunzeln, wenn es soweit ist. Würde man ihn nicht kennen, käme ja keiner auf die Idee, dass es sich um einen Vertreter des Austria-Volks handelt. "I bin a echter Wiener", sagt Alaba stolz, die Klangfarbe verifiziert ihn endgültig. Mutter Gina stammt von den Philippinen, Vater George, ein ehemaliger Rapper, ist Nigerianer. Geboren aber wird David in - Wien, klar. Dort lernt er den Umgang mit dem Fußball, und weil er sich darin deutlich geschickter anstellt als Gleichaltrige, ist der schmächtige Bursche dem Rest immer ein paar Schritte voraus. Eigentlich sind es sehr viele Schritte.
Alaba klettert die Karriereleiter nicht sachte hinauf, er nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal. Minimum. Mit 15 wird er bei Austria Wien zum ersten Mal in einem Testspiel eingesetzt. Ein Jahr darauf holt ihn der FC Bayern in die Jugendabteilung. Im Frühjahr 2010 probiert ihn Talentförderer Louis van Gaal in der Profi-Mannschaft der Münchner. Es ist keine belanglose Partie gegen einen Amateurklub im Pokal. Alabas Debüt fällt auf den 9. März, als die Bayern beim AC Florenz antreten müssen. Im Achtelfinal-Rückspiel der UEFA Champions League. Da ist er gerade 17.
Der jungenhafte Teenager macht seine Sache ehrenwert, er traut sich sogar, dem arrivierten Franck Ribéry einen Stellungsfehler aufzuzeigen - wild fuchtelnd. Die Bayern quälen sich mit einer 2:3-Niederlage in die nächste Runde. Louis van Gaal wird später urteilen: "Alaba ist ein linker Außenverteidiger, auch wenn er das nicht denkt."
Wie an der geraden Schnur gezogen verläuft sein Aufstieg fortan nicht. Wahrscheinlich wäre das zu billig gewesen, zu simpel, oder der Erfolgsstory würde schlicht die Pointe fehlen. Irgendetwas in diese Richtung. Alaba kommt kaum mehr zum Zug, er wird nach Hoffenheim verliehen. 2011 kehrt er als fertiger Bundesligaspieler zurück. Mit 19 Jahren.
Locker, lässig, leicht?
Heute schüttelt der österreichische Nationaltrainer Marcel Koller den Kopf, nein, ein Denkmal müsse man seinem wichtigsten Mann nicht errichten, "er gibt sich auch nicht so, dass er gern eins hätte." David Alaba erklärt, ja mei, er versuche halt, "locker zu bleiben." Und er sagt dies: Locker. Als wäre es völlig normal, dass ein 21-jähriger die Last einer Fußballnation zu schultern hat. Alleine. Denn nichts anderes ist Alaba, ob er will oder nicht: Derjenige, an dem sich alle aufrichten und orientieren.
Sicher, die Österreicher haben gutklassige Akteure in ihren Reihen; den Schalker Fuchs, den Stuttgarter Harnik, der Ex-Bremer Arnautovic könnte und sollte es sein, wenn sich dieser Exzentriker mit der außergewöhnlichen Begabung für Nebenkriegsschauplätze doch nur einmal auf Fußball konzentrieren würde. Nie ist die Gelegenheit günstiger gewesen, an einem kontinentalen Wettkampf teilzunehmen, erst recht nach dem emotionalen 1:0-Kraftakt gegen Irland vor wenigen Wochen. Das Wiener Happel-Stadion kocht über, als in der 84. Minute der erlösende Siegtreffer fällt. Schütze: David Alaba. An jenem Abend wirkt es erstmals so, dass ihm die aufgeregten Umstände zusetzen. Nicht während der 90 Minuten, eher danach. "Es ist schon ein Wahnsinnsgefühl, wenn zum Radetzkymarsch die Fahnen wedeln. Es hat richtig gebrannt!"
Alaba feiert mit 17 Jahren seine Premiere in der österreichischen Auswahl. Seitdem wird er zweimal zum Fußballer des Jahres gewählt, mit überwältigender Mehrheit. Die dritte Ehrung steht, natürlich, unmittelbar bevor. 2013 ist Alabas bisher größtes Jahr: Triple-Sieger mit dem FC Bayern, leuchtender Fixpunkt sowohl in München als auch in der Nationalelf. "David lernt beim FC Bayern von den Besten, das bringt ihn stetig voran", bemerkt Marcel Koller. Damit dieser Zustand möglichst ausgedehnt wird, haben ihm die Bayern einen neuen Vertrag offeriert, der bis 2019 laufen und seine Bezüge auf sechs Millionen Euro per annum erhöhen soll. Sie wissen um die erlesene Konkurrenz, denn Alaba ist ein heiß begehrtes Objekt auf dem internationalen Transfermarkt. Barcelona, Manchester City, Arsenal und Chelsea sollen interessiert sein.
Das Potential zum Weltstar
114 Pflichtspiele hat er bereits für den FC Bayern bestritten, auf der linken defensiven Außenbahn, im Pärchen mit Franck Ribéry. Die Relation zwischen den beiden Spaßköpfen ist speziell, Ribéry bezeichnete den neun Jahre jüngeren Alaba einmal als "meinen Sohn". Das war im Übrigen nicht irgendwo, sondern auf dem Rathausbalkon, nach dem Triple-Triumph. Ein anderer Franzose, Willy Sagnol, sieht den Weg Alabas vorgezeichnet: "David hat eine super Persönlichkeit. Ich kenne ihn ein bisschen, er ist höflich, lustig, ein sehr guter und intelligenter Spieler. Er hat alles für eine große Karriere."
Diese Meinung vertritt der frühere Publikumsliebling der Bayern nicht exklusiv. Alaba, das denken viele, werde schon bald in einer Kategorie der prägenden Figuren des europäischen Fußballs erscheinen, mit seiner kühnen Finesse, seinem spitzbübischen Auftreten, auch seinem Wiener Schmäh. Marcel Koller beruhigt die Lobeshymnen: "Für mich ist ein Weltstar jemand, der nicht nur rein fußballerisch hervorragende Leistungen zeigt. Es kommt darauf an, was in der Kabine passiert, in der Öffentlichkeit."
Es gibt sie, die Gefahr der andauernden Schulterklopfer, aber faktisch begrenzt sie sich auf die Theorie. Alaba ("Ich bete jeden Tag") ist überaus religiös, gehört den Siebenten-Tags-Adventisten an, einer evangelischen Freikirche. Seine Stärke fußt auf dem Glauben. Die Bodenhaftung wird er nicht verlieren, und falls doch, würde er schnell wieder geerdet werden: Von seinem Umfeld, seinen Trainern - oder verunglückten Freistößen in Stockholm.
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Danke, Roy sowas kannst du einfach!
Das ist noch ne Nummer über Hargreaves, und das heißt bei mir was.....
Wahnsinn wie der David das alles ausblendet und sein Ding macht!
Hat für mich inzwischen einzig neben Lahm das Prädikat, Potenzial = unendlich!
Ich glaube er weiß selbst noch nicht was er alles kann....
Im Endeffekt haben 4 Minuten auf die Playoffs gefehlt.
Ich wünsche mir für ihn, dass er auch im zentralen Mittelfeld seine Einsätze bekommen wird in Zukunft. Nur denke ich kaum, dass das bei den Bayern passieren wird.
In Hoffenheim musste er reifen, der ultimative Glanz war es nicht. Das seh ich auch so. Ich hab ihn als fertigen Spieler bezeichnet, weil er von Beginn der Saison 11/12 an ein Leistungsträger bei den Bayern war. Aber über das "fertig" kann man sicher diskutieren.
denke, david hat eine glorreiche zukunft vor sich. und eine gegenwart auch.
Und auch wenn er es nicht wahrhaben möchte, aber er wird auf Vereinsebene wohl immer als LV den vorzug bekommen, weil er da eine Klasse für sich ist.
Hab mich schon bei dem Gedanken erwischt, warum seine Eltern sich nicht in Deutschland niedergelassen haben. Dann wären bis Qatar 2022 alle deutschen Probleme hinten links beseitigt und er würde nicht irgendwann mit Ryan Giggs in einem Atemzug genannt
Mh, ich bin nicht so sicher mit dem Finale dahoam. Hatte überlegt, Alabas Sperre in den Text zu nehmen, aber mich dann dagegen entschieden, weil ich finde, dass Contento damals sein bestes Spiel für die Bayern gemacht hat (Zyniker werden sagen, sein einzig gutes). An ihm lag es gegen Chelsea nicht...
@Scholli:
Der weiß gar nicht, wie gut er ist - diesen Satz hört man ja oft, aber bei Alaba trifft er wohl mit am Besten zu. Wenn du mit Hargreaves einen Text von mir meinen würdest, dann irrt dein Gedächtnis Über ihn hab ich (noch) nicht geschrieben. Hast du den Link, würde mich interessieren?