Küchenpsychologie in elf Metern

22. April 1986: Höhepunkt des Zweikampfs zwischen Werder Bremen und dem FC Bayern München



Es war eine Saison, die in meiner Erinnerung vornehmlich abseits des Platzes stattfand. Ein Quartett stritt sich und ging weder Mikrofonen noch Kameras, von denen es vor 26 Jahren noch nicht so viele gab wie heute, aus dem Weg. Die Manager Uli Hoeneß und Willi Lemke ließen keine Gelegenheit aus, sich Unredlichkeit und andere Dinge vorzuwerfen. Der Reiche aus dem Süden aus dem Süden und das selbst ernannte Armenhaus der Liga im Norden ließen den Klassenkampf wieder aufleben, wenn auch auf rhetorisch niedrigem Niveau. Trainer Udo Lattek stichelte gegen seinen Kollegen Otto Rehhagel, der wiederumgerne hervorhob, dass man nicht mit dem Mund Deutscher Meister werde.

Der 33. Spieltag am 22. April 1986, der Dienstag nach Ostern, bildete den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung. Werder Bremen führte den Tabelle seit dem 2. Spieltag an. Heute ist es gar nicht mehr vorstellbar, dass die drei letzten Spieltage während einer Englischen Woche ausgetragen werden.
Es war also alles gerichtet für den Showdown im Weserstadion, als die Grün-Weißen die Rot-Weißen zum heißen Tanz aufforderten. Zwei Punkte trennten die beiden Mannschaften. Die Bremer ließen aber am 32. Spieltag Federn, als sie am Gründonnerstag zuhause gegen die damals noch regelmäßig um die Spitze mitspielende Borussia aus Mönchengladbach nur unentschieden spielten. Aber auch die Bayern reisten nach einem 0:0 am Karsamstag gegen Leverkusen nicht eben mit breiter Brust an die Weser.

Die Messer waren gewetzt. Das Hinspiel, das der FCB mit 3:1 gewann, war allen noch in bester Erinnerung, weil Klaus Augenthaler mit einem rüden Foul Rudi Völler schwer verletzte, und der seit dem ohne Einsatz blieb. Noch nicht ganz fit setzte ihn Otto Rehhagel als psychologische Waffe auf die Bank. Diese 22 Männer traten um 20 Uhr zum Gipfel an [1]:
Burdenski, Pezzey, Kutzop, Okudera, Otten, Schaaf, Meier, Votava, Wolter, Burgsmüller, Neubarth
Pfaff, Augentahler, Eder, Pflügler, Nachtweih, Lerby, Matthäus, Mathy, D. Hoeneß, M. Rummenigge, Wolfarth
Als Schiedsrichter wurde Volker Roth eingesetzt, der seinerzeit als bester seiner Zunft galt oder sich zumindest dafür hielt. Es sollte sein letztes Bundesligaspiel sein, da er nach der Weltmeisterschaft in Mexiko aus Altersgründen seine Pfeife an die Wand hing.

Wer nicht zu den erlesenen 40.800 Zuschauern vor Ort und den wenigen Sat.1-Empfängern gehörte, musste mit dem Radio vorlieb nehmen.
Walter Jasper und Wilhelm Johannsson von Radio Bremen kommentierten die Partie. Ihre Stimmen erhoben sich immer wieder, wenn sich so etwas wie eine Torchance ankündigte. Besonders viel passierte nicht, weil sich meiner Erinnerung nach beide Mannschaften weitgehend neutralisierten, wie das eben in Spitzenspielen eben so häufig der Fall ist. Scheiß egal! Meine Aufregung war riesengroß. Hätte ich damals schon geraucht, wäre der Aschenbecher sehr schnell sehr voll geworden.
Den ersten wirklichen Höhepunkt gab es sehr spät, in der 77. Minute, als Otto Rehhagel den Joker Rudi Völler zog. Da der Fußball gerne kitschige Drehbücher schreibt, wie sie sonst nur Rosamunde Pilcher ungestraft abliefern darf, war es natürlich Rudi Völler, der als erster in die Szene des Spiels involviert war. Ein Schuss im Strafraum landete direkt bei Søren Lerby. Volker Roth will gesehen haben, dass es seine Hand war, die denn Ball berührte, aber es war wohl doch nur das Gesicht.
Elfmeter.
Jetzt war es wirklich aufregend im Weserstadion. Die Kommentatoren waren so emotional wie die Spieler auf dem Platz und beschrieben, sicher wild gestikulierend, das Geschehen auf dem Rasen.
Rosamunde Pilcher wich nun Alfred Hitchcock. Augenblicke, in denen man sich als Raucher mindestens zwei Zigaretten auf einmal anstecken will, um den Stress zu kompensieren. Für mich war die Meisterschaft nun verloren, weil Michael Kutzop als einer der sichersten Elfmeterschützen galt. 29 verwandelte Strafstöße am Stück sind eine Referenz, die wenig Raum für Hoffnung lässt.
Irgendwann nach einer halben Ewigkeit, die 125 Sekunden [2] andauerte, trat Kutzop an. Das war's. Der Titel ist futsch.
Doch, dann das: "Michael Kutzop! Er läuft an, und.....? Daneeeebeeeen! Er schießt den Elfmeter vorbei!" [3]
Unglaublich! Er setzte den Ball an den Pfosten. Und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Aus Aufregung wurde binnen eines Schusses Konfusion mit immer noch sehr viel Adrenalin im Blut. Als das Spiel wenige Sekunden später abgepfiffen wurde, brauchte ich sehr lange, um wieder herunterzukommen.

Werder Bremen erholte sich bekanntlich von diesem Fehlschuss nicht mehr und verlor am letzten Spieltag in Stuttgart, während der FC Bayern Borussia Mönchengladbach mit 6:0 aus dem Stadion schoss und erstmals die Tabellenspitze erklomm.

Für Freunde der Küchenpsychologie sind diese Sekunden bis heute ein gefundenes Fressen. Für mich war es das aufregendste Spiel, bis 13 Jahre später ein Finale diesen Krimi ablöste.
Aber das ist eine andere Geschichte.

Quellen:
[1] Fussballdaten.de
[2] einestages
[3] Lobster53