Warum also ist jeder 1.2te Deutsche, wenn man den Umfragen vertrauen darf, und das darf man, sofern die Daten nicht von Allensbach erhoben wurden, der Ansicht, die WM 2006 war so ziemlich das obertittengeilste, was die Menschheit seit der Mondlandung (die natürlich nur eine Verschwörung war!) je vollbracht hat?

Um den Hass-Kommentaren zuvorzukommen: Ich beziehe mich auf das fußballerische Element. Die wilden Begattungsorgien zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten während des Public Viewings waren super. Für den demographischen Wandel vielleicht nicht so durchschlagend wie erhofft, aber sicherlich nett. Das brüderliche Spontanbesäufnis mit zufällig vorbeikommenden japanischen Touristen war auch top. Die Stimmung im Land war sowieso supiklasse. Endlich mal wieder stolz auf Deutschland sein! Konnte man ja zuletzt eher nicht mehr so sein, die meisten Fanmeilen-Besucher werden beim EM-Sieg 1996 noch zu jung gewesen sein. Alles kein Thema, kann ich unterschreiben, da fällt mir kein Zacken aus der Krone.

Aber wieso brach das Neo-Fan-Tum gerade 2006 aus? Und wieso zum Geier denkt der Großteil der "Fans", wir wären 2006 spielerisch so unglaublich überragend gewesen?

WM im eigenen Land, da kann man sich schon mal mehr für das eigene Team begeistern, das ist völlig klar. Aber die Schuld am Deutschland-Hype, die trägt größtenteils ein Mann. Und ihm haben wir es auch zu verdanken, dass die Unternehmen noch viel begeisterter auf den Merchandising-Zug aufgesprungen sind als 2006. Sein Name: Sönke Wortmann. Sein Verbrechen: "Deutschland – ein Sommermärchen". Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wir wurden Dritter! Das ist ungefähr so märchenhaft, wie wenn der FC Bayern deutscher Vizemeister wird. Und ganz ehrlich: So ejakulationswürdig war unser Fußball 2006 wirklich nicht. Wer anderer Meinung ist, der möge sich doch bitte das Polen-Spiel der Vorrunde oder das Argentinien- oder Italien-Spiel vor Augen führen, in dem wir den Gegner quasi die volle Spielzeit über nicht dominiert haben.
Aber all die schönen Randerscheinungen haben mit zur Mythenbildung des "Sommermärchens" beigetragen: Deutschland spielte überragenden Fußball und ist völlig zu Unrecht gegen die blöden, doofen Italiener rausgefolgen, die nach Fisch riechen und den Titel gar nicht verdient haben!

Das für sich genommen ist ja schon schlimm genug für einen richtigen Fan. Schlimmer wird es nur, wenn wir uns die gegenwärtige Situation vor Augen führen, denn die ist ziemlich gefährlich. Wie oben erwähnt, ist es eine Verschwörung von Medien und Unternehmen.

Wohin man dieser Tage sieht, welche Zeitung man aufschlägt oder welche Internetseite man ansurft: Nichts geht mehr ohne einen Leitartikel, Intensiv-Sonder-Exklusivberichte über den Zustand der rechten Tränendrüse von Mesut Özil oder irgendwelchen total schwarz-rot-geilen Sonderangeboten großer Elektronikmärkte. Es ist, als würde einem die geballte Macht der Öffentlichkeit: "Ey, Weltmeisterschaft! Sei schwarz-rot-geil! Kauf' was! Zeig Deine Begeisterung! Schlaaaaaaand!" ins Gesicht schreien. So setzt bei mir schon vor dem Turnier ein Überdruss ein, der mich wünschen lässt, die WM möge möglichst schnell vorbei sein.

Genauso bei Büchern und anderen Medien: Es ist geradezu obszön. Da versteigen sich Leute, die bei Gott keine Ahnung von Fußball haben, in pseudoreligiöse Deutungen unseres geliebten Sports. Irgendwann kommt sicher auch noch Guido Knopp mit dem epochenmachenden Werk: "Die Zehennägel von ...s Lieblingsspieler" um die Ecke. Und von oben erwähntem Sönke Wortmann sehen wir nach der WM die romantische Liebeskomödie: "Sommermärchen reloaded", in der uns die innig kuschelnden Schweinsteiger und Trochowski darüber hinwegtäuschen, dass wir im Achtelfinale gegen England rausgeflogen sind. Indem uns weisgemacht wird, wir seien gefühlter Weltmeister. Hat 2006 ja auch schon geklappt. Weil so'n dritter Platz...der ist eigentlich gar nicht so geil.

Und wo hat uns das alles hingeführt? Zu einer Erwartungshaltung, insbesondere der Neo-Fans, Deutschland müsse jetzt wirklich berückend schönen Offensivfußball spielen, und auch mal Gegner wie Malta 28:0 vom Platz kloppen. Weil in ihrer alkoholbenebelten Erinnerung war das bei der WM ja so: Schweini, Poldi, Tor! Wenn das nicht klappt, dann pfeift man sich halt die Seele aus dem Leib, wie beim letzten Quali-Spiel, als es um nix mehr ging und die Akteure entsprechend lustlos über den Platz stolperten.

Ich stelle nicht in Abrede, dass wir uns fußballerisch verbessert haben, ohne Frage. Ich will auch niemandem die WM 2006 madig machen. Obwohl...doch, schon. Die war fußballerisch nämlich fast so scheiße wie alle davor. Und 2010 den "vierten Stern für Schland" holen, das wär' schon geil.
Aber man sollte aus Deutschland nicht auf Biegen und Brechen "Spanien light" machen wollen und dann motzen, wenn wir das mit unseren Füßen aus Malta eben nicht hinbekommen. Zugegeben, gegen Australien war das sehr schön anzusehen, aber Leute: Es war Australien! Hängt das nicht zu hoch!

Daher erhebe ich in meiner transzendentalen Weisheit jetzt meinen mahnenden Zeigefinger und sage: Verlangt nicht zu viel. Erwartet nur das Minimum. Umso größer ist die Freude, wenn es doch anders kommt - wie damals, 2002."

Falls ihr senil seid: Das war Teil I