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13.06.2010 um 19:18 Uhr
Special Relationships
1960 illustrierte der damalige Prime Minister Harold Macmillan seinen Landsleuten ihre hervorgehobene Stellung gegenüber den Amerikanern mit einer kleinen historischen Analogie: "You will find the Americans much like the Greeks found the Romans: great, big, vulgar, bustling people more vigorous than we are and also more idle, with more unspoiled virtues but also more corrupt". Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass diese gefühlte selbstverständliche Überlegenheit gegenüber den Amerikanern auch ihren Ausdruck in diversen journalistischen Ergüssen der letzten Tage fand. Am stärksten übrigens in Bierwerbungen: "Greene King" verglich beispielsweise amerikanisches "Yankee doodle shandy brewed using the famous weak wheat" mit ihrem "IPA: Brewing Perfection", und "Courage" bewarb "American Tourists Mauled By Three Lions". Selbst der eher nüchterne Guardian rang sich dazu durch, den (in der Praxis sowieso nicht existenten) "special relationship" für einen Tag ruhen zu lassen.

In dem gemütlichen Pub, in welchem ich seit kurzem hinter der Bar stehe, war von all dieser Aufregung jedoch erst einmal herzlich wenig zu spüren. Immerhin besteht das Bar-Team mit einem Australier und zwei Südafrikanern zu einem großen Teil aus Nationalitäten, welche einen ähnlichen "special relationship" mit den Briten pflegen. Und überhaupt füllte sich das Pub um 11 Uhr morgens primär nicht mit freudiger Erwartung des abendlichen Spiels, sondern vielmehr mit einer beachtlichen Menge an Leuten, welche sich viel stärker für das soeben beginnende Rugbyspiel interessierten: England – Australien.

Da Rugby zu jenen Sportarten gehört, mit welchen ich herzlich wenig – gar nichts – anfangen kann, widmete ich mich erst einmal den Stammgästen an der Bar. Wie sieht es denn so aus mit der WM? Aufreger des Tages ist erst einmal Capello: erst zwei Stunden vor Spielbeginn lässt er seine Spieler wissen, wer von Anfang an beginnen wird, und das findet man ganz und gar schockierend, schließlich muss man sich doch mental darauf einstellen, beispielsweise als Torwart. Und überhaupt: Optimismus ist etwas anderes, die meisten tippen auf ein Unentschieden, einige auf einen knappen Sieg. Der einzige Vollblut-Optimist ist der Pub-Manager – als stolzer Engländer tippt er auf ein souveränes 3:0.

Die Stimmung ist also nervös/unruhig/angespannt vor dem Spiel, und all diese Emotionen entladen sich plötzlich, als ein gewisser Diego Maradona auf den Fernsehschirmen erscheint. Diverse Beschimpfungen – dirty prick, fucking wanker, das übliche eben – werden lauthals hinausgebrüllt. Die Hand Gottes hat ihm eben hier noch keiner verziehen, und außerdem war man ja, wie ein älterer Herr der allgemein desinteressierten Menge erläutert, erst "kürzlich" im Krieg gegen Argentinien. Ein weiterer special relationship also. Als sich der gute Maradona dann aber im Kommissar-Kugelblitz Anzug präsentiert, weicht der aggressive Grundtenor allgemeinem Gelächter. Einmal abgesehen von dem einzigen glühenden Argentinien-Fan im Pub: ein Südkoreaner. Während dem Spiel der eigenen Mannschaft wurde noch desinteressiert Zeitung gelesen, nun wird jeder einzelne Angriff lautstark beklatscht.

Je näher das Spiel der Engländer rückt, desto voller der Pub, und desto nervöser die Grundstimmung. Da ist wenig zu spüren von all dem Optimismus, welchen sämtliche Zeitungen die letzten Tage durch die Welt posaunten. Im Gegenteil, man wünscht sich Glück, warnt vor Donovan (wohl primär wegen dessen "begeisternder" Rückrunden-Performance in Everton), und konsumiert natürlich massig "London Pride", um die Nerven im Griff zu halten. Ähnlich stolz geht es dann auch bei der Nationalhymne zu, gesungen voller Inbrunst und aufmunternd beklatscht. Nach vier Minuten ist England endlich Weltmeister. Mindestens.

"In England, there's always some kind of overreaction", kommentierte Alan Shearer heute in der BBC, "we're either brilliant or an utter disaster". Und solche Desaster sind bekannterweise gerne mal mit Torwarten verbunden (ein weiterer "special relationship"...). So auch gestern in der 40. Minute: ein kollektiver Aufschrei, danach Schockstarre. Und irgendwie war von diesem Moment an auch klar, dass es mit dem Spiel wohl nichts mehr werden würde. Natürlich, es wurde weiter gehofft, aber die Siegesgewissheit, der Enthusiasmus fehlte nun. Einige Englandtrikots verließen das Pub sogar 10 Minuten vor Ende des Spiels – an sich unvorstellbar. Einzelne flüchteten sich in Alkohol, viele in Sarkasmus: jede Wiederholung von Rob Greens Fangversuch wurde lautstark bejubelt und beklatscht. Nach Spielende war England gefühlt ausgeschieden. Was bleibt ist Ernüchterung. Und natürlich ein fetter Kater. Wie ein resignierter John Terry treffend zusammenfasste: "These things can happen in football … I'm just disappointed that they always seem to happen to us". 44 years of hurt indeed.

Nur der (italienische) Trainer, der hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Wie uns die Spitzenjournalisten der Sun in einem weiteren waghalsigen Wortspiel mitteilen: "'We'll still be Fab': Capello keeps cool despite draw".
Aufrufe: 2809 | Kommentare: 11 | Bewertungen: 23 | Erstellt:13.06.2010
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KOMMENTARE
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muetzio
15.06.2010 | 14:23 Uhr
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muetzio : safe
15.06.2010 | 14:23 Uhr
0
muetzio : safe
genau das richtige maß an pop-literatur und journalismus, das ein blog braucht.
und die perfekte ergänzung des bisweilen honigstein-lastigen blicks auf die insel.

glatte 10.
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