Belgrad, 25. 10.2007. Der FC Bayern hat gerade sein Auftaktspiel im UEFA-Cup mit 3:2 bei Roter Stern gewonnen und ist dabei nur knapp einer Blamage entgangen. Denn bis zur 86. Minute lag man mit 1:2 zurück. Matchwinner ist der 17jährige Toni Kroos. In der 81. Minute eingewechselt bereitet er erst den Ausgleich vor, um in der Nachspielzeit per Freistoß den Siegtreffer zu erzielen.

Spätestens nach diesem Spiel sind sich die Experten einig: Dieser Mann ist die Zukunft des deutschen Fußballs, der kommende Weltstar, nach dem sich das Land seit langem sehnt. Die Vehemenz, mit der Uli Hoeneß ihn anschließend aus der Schusslinie der Medien zu nehmen versucht, spricht ebenfalls dafür, dass hier ein außergewöhnlicher Spieler heranwächst.

Bayern muss dieses Jahr Meister werden - noch mehr als sonst.

Doch der Aufstieg des Greifswalders verläuft in der Folge bei Weitem nicht so rasant, wie es sein Auftritt in Belgrad erhoffen lässt. Der Hauptgrund dafür wurde bereits erwähnt: Der FC Bayern spielt in diesem Jahr nur im UEFA-Cup. Einem Wettbewerb, der sich mit dem Selbstverständnis dieses Clubs nicht vereinbaren lässt. Und ist die Qualität des Kaders in der Sommerpause dramatisch erhöht worden. Abgängen wie Ali Karimi, Julio dos Santos oder Andreas Görtlitz stehen Neuzugänge wie Franck Ribery, Ze Roberto und Hamit Altintop gegenüber. Die einzig schmerzlichen Verluste, Owen Hargreaves und Claudio Pizarro, werden durch eine gigantische Ablösesumme und die Verpflichtung von Luca Toni sowie Miroslav Klose aufgewogen.

Und selbst Spieler wie Jan Schlaudraff, Marcell Jansen und Ernesto Sosa stehen in der Hierarchie über Toni Kroos. Gerade in dieser Saison, in der nichts schief gehen darf, ist für die Entwicklung eines 17jährigen schlicht kein Platz.

Dazu kommt, dass Kroos seiner Zeit voraus ist. Heute hat kein Trainer mehr ein Problem damit, Spielern, die noch keinen Schnaps kaufen dürfen, auf dem Feld Verantwortung zu übertragen. Es ist im Gegenteil fast eine Art Wahn geworden. Das hängt jedoch auch damit zusammen, dass nach der desaströsen EM 2000 beim DFB ein Umdenken stattgefunden hat, so dass man heute über ein Arsenal an außergewöhnlich guten Spielern unter 22 Jahren verfügt, um das einen jede Nation beneidet. Im Jahr 2007 steht Kroos ziemlich alleine da.

Das Modell Lahm

Und so stehen am Ende seiner ersten Profisaison lediglich 360 Minuten Einsatzzeit in der Bundesliga zu Buche, dazu 83 im Pokal und 176 im UEFA-Cup. Den Großteil seiner Spielpraxis sammelt er in der Regionalliga. Nach sechs Hinrundeneinsätzen unter Jürgen Klinsmann lässt sich Kroos in der Winterpause 2008/09 an Bayer Leverkusen ausleihen. So wie es Philipp Lahm beim VfB Stuttgart vorgemacht hat, will er sich durch vermehrte Einsatzzeiten für höhere Aufgaben empfehlen. Und tatsächlich zahlt sich dieser Schritt aus: Nach einer überschaubaren Rückrunde avanciert Kroos in der Folgesaison zum absoluten Leistungsträger derWerkself, die am Ende den vierten Platz belegt auch dank der 21 Scorerpunkte des Talents.

Seit seiner Rückkehr nach München ist Kroos fester Bestandteil der ersten Mannschaft und steht dabei fast immer in der Startelf.

An der Schwelle zur Weltklasse

Und doch bleibt ihm die ganz große Anerkennung in Deutschland verwehrt. Das liegt zum einen daran, dass ihn der eine oder andere jüngere Spieler zumindest vorübergehend - leistungstechnisch überholt hat, zum anderen auch an ihm selbst. Denn er hat den letzten Schritt zur Weltklasse noch nicht vollzogen. Fußballerisch ja, spätestens unter Guardiola und im aktuellen Spielsystem des FC Bayern, dass perfekt auf ihn zugeschnitten ist. Hier kann er seine Stärken ideal ausspielen, seine Schwächen in Sachen Dynamik und Schnelligkeit werden kaschiert. Der überragende Auftritt bei Arsenal spricht als Höhepunkt einer bisher starken Saison für sich.

Was also fehlt Toni Kroos? Es ist die Qualität, eine Mannschaft zu führen und voranzugehen, wenn es nicht läuft.

Diese Schwäche zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere. Bei seinem ersten größeren Auftritt, der U-17-WM, wurde er zum besten Spieler des Turniers gewählt und verbuchte in 5 Einsätzen 5 Scorerpunkte. Einzig bei der Halbfinalniederlage gegen Nigeria war er an keinem Tor beteiligt.

Und auch das eingangs erwähnte Spiel in Belgrad ist nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Es ist bis heute das einzige(!) Spiel, das Kroos durch direkte Torbeteiligungen im Alleingang gedreht hat.

Insgesamt hat er für den FC Bayern, Leverkusen und die Nationalmannschaften 286 Pflichtspiele absolviert und war dabei an 120 Toren direkt beteiligt, was einem Schnitt von 0,42 entspricht. Bei Siegen seiner Mannschaften kommt er in dieser Hinsicht auf 0,55, bei Unentschieden auf 0,25 und bei Niederlagen sogar nur auf 0,11.

Es ist klar, dass durch eine Torbeteiligung von Kroos auch die Chancen auf einen Sieg oder ein Unentschieden steigen, deswegen zum Vergleich die selben Werte bei Bastian Schweinsteiger (Saisons 2002/03 bis 08/09): 332 Pflichtspiele, 117 direkte Torbeteiligungen. Das entspricht einem Schnitt von 0,35. Bei Siegen kommt Schweinsteiger auf 0,45, bei Remis auf 0,22 und bei Niederlagen auf 0,12.

Diese Zahlen sind insgesamt naturgemäß niedriger, das sind jedoch auch die Differenzen zueinander.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Folgendes: Im erwähnten Zeitraum hat Schweini acht mal für den Ausgleich gesorgt, Kroos gelang dies in seiner Karriere erst viermal, wobei es in letzter Zeit zugegebenermaßen schwierig ist, als Bayernspieler einen Ausgleichstreffer zu erzielen.Bei zwei Toren Rückstand hat Kroos sogar erst ein einziges Mal getroffen.

Der Schritt wird kommen

Trotz dieser Werte ist bei Toni Kroos auch mental eine Tendenz in die richtige Richtung erkennbar. Dafür spricht, dass er mittlerweile auch wichtige Tore erzielt (13/14 bedeuteten beide Pflichtspieltreffer das 1:0). Und auch seine Reaktion auf die Zwangspause, die ihm Guardiola Anfang des Jahres verordnet hat, lässt dies vermuten.

Es hat bis zur WM 2010 gedauert, bis Bastian Schweinsteiger unumstritten war. Dieselbe Chance tut sich nun für Kroos auf: Er ist für mich der logischste Khedira-Ersatz, da es in meinen Augen fahrlässig wäre, Lahm von seiner Stammposition abzuziehen.

Und auch für die Zeit nach dem Turnier kann er sich empfehlen. Momentan verfügt die Nationalmannschaft mit Kroos und Özil über zwei Spieler, die fußballerisch alles mitbringen, denen aber gleichermaßen die Führungsqualitäten abgehen. Aufgrund der jeweiligen Entwicklungen in den letzten Jahren traue ich Kroos eher zu, den letzten, entscheidenden Schritt zu machen und so Özil mittelfristig auf der Zehn abzulösen.