05.07.2012 um 18:40 Uhr
Mit dem Nachtzug nach Kiew (1)
Eigentlich sollte unser Nachtzug mit Ziel Kiew bereits um 21.50 Uhr auf Gleis 11 am Berliner Hauptbahnhof ein- und losfahren. Doch daraus wurde leider nichts. Statt es sich bereits gegen Mitternacht in den Liegesesseln gemütlich zu machen, musste der harte Bahnhofsboden herhalten. Immer wieder ließen Lautsprecherdurchsagen unsere fußballbegeisterte Reisetruppe aufhorchen. Doch statt einer Ankündigung, dass der Zug endlich kommt, wurden wir mit Wartezeit abgestraft. Erst eine, dann zwei, dann fünf Stunden.
Einige warfen bereits früh die Flinte ins Korn und verabschiedeten sich genervt von dem Gedanken eines Stadionbesuchs. Stellenweise waren wir die einzigen Passagiere auf dem Gleis. Schwierig war nicht nur der harte Boden: Auch die Biervorräte gingen so langsam aus. Mit Schuld daran war ein polnischer Greis, der sich mit unvergleichbarem Charme das ein oder andere Bier erschlich. Auf dem Nachbargleis kam – ebenfalls mit Verspätung – der Zug aus Warschau an. Heraus sprangen singende Deutschlandanhänger, die unsere Elf im Halbfinale gegen Italien leider erfolglos nach vorne gepeitscht hatten. Der angeblich „modernste Bahnhof der Welt" bot dem Reisenden nach Mitternacht nicht einmal mehr seine DB-Lounge an. Stattdessen versuchten die Angestellten es mit Verzehrgutscheinen im Wert von 6x2 Euro. Sehr brauchbar, wenn bereits sämtliche Imbisse und Kneipen im Hauptbahnhof geschlossen hatten. Nach einiger Zeit sprach sich der Grund der Verspätung zu uns durch: Das ukrainische Pendant zur Deutschen Bahn hat in freudiger Erwartung einer Riesenanzahl an deutschen Fans zwölf weitere, uralte Waggons an die Lok gehängt, welche von der Deutschen Bahn-Aufsicht für untauglich erklärt wurden. Sprich: Erst wenn die Waggons abgehängt werden, wird der Zug nach Kiew zugelassen. Wird die Bahn uns tatsächlich die Reise nach Kiew verwehren?
Nach 5 Stunden und 40 Minuten fuhr endlich der D-Zug nach Kiew ein. Leider ohne die zwölf Extrawaggons und somit auch ohne den Schlafwagen, den wir gebucht hatten. Doch statt sich dem Schicksal zu fügen und bedröppelt die Heimreise anzutreten, huschten wir einfach an der nur Ukrainisch sprechenden Schaffnerin vorbei und sicherten uns ein Abteil. Glücklicherweise war es unbesetzt – so konnten wir uns, auch ohne das nötige Extrakleingeld einen Platz verschaffen. Was für ein Chaos hätte wohl geherrscht, wenn Deutschland ins Finale gestürmt und eine Unmenge an Fans auf diesen Zug angewiesen wären? In den Abteilen herrschte nur Platz für drei Personen. Auf den Gängen war ein Nächtigen beinahe unmöglich: Kaum ein Rollkoffer konnte problemlos durch sie hindurch gezogen werden. Ich klemmte mich zwischen Gepäckablage und oberstes Stockbett. Ich hatte zirka dreißig Zentimeter zur Decke und wenn es hoch kommt anderthalb Meter zum Ausstrecken. Bei 1,89 Meter Körpergröße gar nicht so einfach. Trotz der Halbfinalniederlage wollten sich auch andere Deutsche das Spektakel „Endspiel" nicht nehmen lassen. Einige machten statt Deutschland anzufeuern einfach zwei Wochen Urlaub in Kiew, andere präsentierten ihre rosa Schalke-Jerseys auf der Kiewer Fanmeile.
Wir passierten Posen, Warschau sowie Lublin und überquerten die polnisch-ukrainische Grenze. Hier standen wir geschlagene drei Stunden. Grund: Der Zug musste mit neuen Fahrgestellen versehen werden, da die deutsche Norm nicht mit der ukrainischen übereinstimmte. Dies geschah in einer abgelegenen Halle. Hier hievte ein Kran den kompletten Zug in die Höhe. Während rauchende Bauarbeiter Hand anlegten wurden unsere Pässe kontrolliert. Doch nicht nur das: Auch meine Kamera fiel dem Militär zum Opfer. Ich hätte angeblich Fotos in diesem abgesperrten Areal gemacht, was verboten sei. Glücklicherweise bekam ich sie nach einem langandauernden Monolog des ukrainischen Soldaten wieder. Die ukrainische Bahn dachte zwar an Bettdecken, aber nicht an einen Speisewagen. Bei jedem Halt auf ukrainischem Terrain versorgten uns zum Glück fliegende Händlerinnen mit Knabbereien und Getränken. Sie verkauften lauwarme Pierogi, kühles Bier und meterlangen Trockenfisch. Nur dank dieser Speisen (und selbst mitgebrachtem Nuss-Nougat-Aufstrich) überlebten wir die gut 30 Stunden andauernde Fahrt auf dieser neugeschaffenen Verbindung Berlin – Kiew überhaupt... Nachts um drei Uhr kamen wir in der ukrainischen Hauptstadt an. Glücklicherweise gelang es uns, eine private Wohnung als Unterkunft zu gewinnen. Günstig in einem Plattenbau mit über 200 Wohnungen gelegen und beschaulich eingerichtet, aber dafür zentral gelegen und mit tollem Blick ausgestattet.
Nach einer geruhsamen Nacht auf der Schlafcouch stand endlich der Endspieltag an. Über schier kilometerlange Rolltreppen gelangten wir zur U-Bahn, welche uns zum Ticket Corner, der in der Nähe des Stadions war, brachte. Hier mussten die vorbestellten Karten für das Endspiel abgeholt werden. Es warteten in Rot gekleidete Spanier auf ihre Billets, ukrainische Anhänger ließen sich mit Italienern ablichten und Fans in russischen Jerseys versuchten übrig gebliebene Tickets zum Höchstpreis an den Mann zu bringen. Für uns lief alles glatt. Nur das wir für die Gutscheine für ein Endspiel mit deutscher Teilnahme nun Karten für die Begegnung Spanien gegen Italien in der Hand hielten. Auch nicht schlecht!
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Einige warfen bereits früh die Flinte ins Korn und verabschiedeten sich genervt von dem Gedanken eines Stadionbesuchs. Stellenweise waren wir die einzigen Passagiere auf dem Gleis. Schwierig war nicht nur der harte Boden: Auch die Biervorräte gingen so langsam aus. Mit Schuld daran war ein polnischer Greis, der sich mit unvergleichbarem Charme das ein oder andere Bier erschlich. Auf dem Nachbargleis kam – ebenfalls mit Verspätung – der Zug aus Warschau an. Heraus sprangen singende Deutschlandanhänger, die unsere Elf im Halbfinale gegen Italien leider erfolglos nach vorne gepeitscht hatten. Der angeblich „modernste Bahnhof der Welt" bot dem Reisenden nach Mitternacht nicht einmal mehr seine DB-Lounge an. Stattdessen versuchten die Angestellten es mit Verzehrgutscheinen im Wert von 6x2 Euro. Sehr brauchbar, wenn bereits sämtliche Imbisse und Kneipen im Hauptbahnhof geschlossen hatten. Nach einiger Zeit sprach sich der Grund der Verspätung zu uns durch: Das ukrainische Pendant zur Deutschen Bahn hat in freudiger Erwartung einer Riesenanzahl an deutschen Fans zwölf weitere, uralte Waggons an die Lok gehängt, welche von der Deutschen Bahn-Aufsicht für untauglich erklärt wurden. Sprich: Erst wenn die Waggons abgehängt werden, wird der Zug nach Kiew zugelassen. Wird die Bahn uns tatsächlich die Reise nach Kiew verwehren?
Nach 5 Stunden und 40 Minuten fuhr endlich der D-Zug nach Kiew ein. Leider ohne die zwölf Extrawaggons und somit auch ohne den Schlafwagen, den wir gebucht hatten. Doch statt sich dem Schicksal zu fügen und bedröppelt die Heimreise anzutreten, huschten wir einfach an der nur Ukrainisch sprechenden Schaffnerin vorbei und sicherten uns ein Abteil. Glücklicherweise war es unbesetzt – so konnten wir uns, auch ohne das nötige Extrakleingeld einen Platz verschaffen. Was für ein Chaos hätte wohl geherrscht, wenn Deutschland ins Finale gestürmt und eine Unmenge an Fans auf diesen Zug angewiesen wären? In den Abteilen herrschte nur Platz für drei Personen. Auf den Gängen war ein Nächtigen beinahe unmöglich: Kaum ein Rollkoffer konnte problemlos durch sie hindurch gezogen werden. Ich klemmte mich zwischen Gepäckablage und oberstes Stockbett. Ich hatte zirka dreißig Zentimeter zur Decke und wenn es hoch kommt anderthalb Meter zum Ausstrecken. Bei 1,89 Meter Körpergröße gar nicht so einfach. Trotz der Halbfinalniederlage wollten sich auch andere Deutsche das Spektakel „Endspiel" nicht nehmen lassen. Einige machten statt Deutschland anzufeuern einfach zwei Wochen Urlaub in Kiew, andere präsentierten ihre rosa Schalke-Jerseys auf der Kiewer Fanmeile.
Wir passierten Posen, Warschau sowie Lublin und überquerten die polnisch-ukrainische Grenze. Hier standen wir geschlagene drei Stunden. Grund: Der Zug musste mit neuen Fahrgestellen versehen werden, da die deutsche Norm nicht mit der ukrainischen übereinstimmte. Dies geschah in einer abgelegenen Halle. Hier hievte ein Kran den kompletten Zug in die Höhe. Während rauchende Bauarbeiter Hand anlegten wurden unsere Pässe kontrolliert. Doch nicht nur das: Auch meine Kamera fiel dem Militär zum Opfer. Ich hätte angeblich Fotos in diesem abgesperrten Areal gemacht, was verboten sei. Glücklicherweise bekam ich sie nach einem langandauernden Monolog des ukrainischen Soldaten wieder. Die ukrainische Bahn dachte zwar an Bettdecken, aber nicht an einen Speisewagen. Bei jedem Halt auf ukrainischem Terrain versorgten uns zum Glück fliegende Händlerinnen mit Knabbereien und Getränken. Sie verkauften lauwarme Pierogi, kühles Bier und meterlangen Trockenfisch. Nur dank dieser Speisen (und selbst mitgebrachtem Nuss-Nougat-Aufstrich) überlebten wir die gut 30 Stunden andauernde Fahrt auf dieser neugeschaffenen Verbindung Berlin – Kiew überhaupt... Nachts um drei Uhr kamen wir in der ukrainischen Hauptstadt an. Glücklicherweise gelang es uns, eine private Wohnung als Unterkunft zu gewinnen. Günstig in einem Plattenbau mit über 200 Wohnungen gelegen und beschaulich eingerichtet, aber dafür zentral gelegen und mit tollem Blick ausgestattet.
Nach einer geruhsamen Nacht auf der Schlafcouch stand endlich der Endspieltag an. Über schier kilometerlange Rolltreppen gelangten wir zur U-Bahn, welche uns zum Ticket Corner, der in der Nähe des Stadions war, brachte. Hier mussten die vorbestellten Karten für das Endspiel abgeholt werden. Es warteten in Rot gekleidete Spanier auf ihre Billets, ukrainische Anhänger ließen sich mit Italienern ablichten und Fans in russischen Jerseys versuchten übrig gebliebene Tickets zum Höchstpreis an den Mann zu bringen. Für uns lief alles glatt. Nur das wir für die Gutscheine für ein Endspiel mit deutscher Teilnahme nun Karten für die Begegnung Spanien gegen Italien in der Hand hielten. Auch nicht schlecht!
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