Edition: Suche...
16.01.2012 um 17:15 Uhr
Gentlemen, wir leben am Abgrund
Ein Basketball-Buch? Sehr gerne. Ein Buch über die BBL? Hm. Das war, zugegeben, mein erster Gedanke, als ich erfuhr, dass Thomas Pletzinger die Saison '10/'11 mit der Mannschaft von Alba Berlin verbrachte und darüber ein Buch veröffentlichen würde.
Drei Dinge haben mich trotz meiner anfänglichen Skepsis bewogen, dem Buch doch eine Chance zu geben: Erstens meine grundsätzliche Lust, so viel wie möglich über „meinen" Sport zu lesen, egal woher es kommt oder worum es geht. Zweitens die Tatsache, dass Pletzinger kein ahnungsloser Journalist ist, sondern selbst Basketball lebt und liebt. Drittens der Verlag. Kiepenheuer & Witsch steht für Qualität. Egal, was das Verlagshaus anfasst, man kann sich darauf verlassen, dass das Ergebnis hochwertig ist (z.B. die Romane von Frank Schätzing und Dave Eggers).

Mit viel Liebe zum Detail

Schon bei der Verarbeitung von „Gentlemen, ..." sieht man den Unterschied zu vielen anderen Sportbüchern: Mit viel Liebe zum Detail hat Daniela Greven ein schlichtes und dadurch wunderschönes Cover gestaltet, dessen abgebildeter Basketball sogar echte Noppen hat! Greven war auch für die Aufarbeitung des verwendeten Bildmaterials verantwortlich und hat dafür gesorgt, dass die gezeigten Motive jeweils perfekt die im Text beschriebene Stimmung unterstreichen und das Gesamtwerk so vortrefflich abrunden.
Als ich anfing zu lesen, war mir sehr schnell klar, dass ich hier ein besonderes Buch in Händen halte. Pletzinger beginnt sein Buch mit einem szenischen Einstieg, er beschreibt das Ende der Saison (genauer gesagt das Vorspiel zu Spiel fünf der Finalserie gegen Bamberg). Ausgehend davon beleuchtet er in Rückblicken, wie die Mannschaft an diesem Punkt angelangt ist.
Der gebürtige Münsteraner geht dabei nicht chronologisch vor. Nein, er hüpft auf der Zeitleiste munter vor und zurück: Da wird der Saisonstart beschrieben, dann die erste Playoff-Serie gegen Oldenburg, dann die Krise mitten in der Spielzeit, dann die zweite Playoff-Serie gegen Frankfurt und immer wieder werden Ereignisse eingeworfen, die letztlich zum Rauswurf von Trainer Luka Pavicevic und der Verpflichtung seines Nachfolgers Muli Katzurin führten.

Alinearer Erzählstrang, famose Charakterentwicklung

Das ist insgesamt ein kluger Schachzug. Die Geschichte wird so nie langweilig, Pletzinger gelingt damit eine fast romanähnliche Charakterentwicklung. Nach und nach stellt er dem Leser die Spieler, Trainer und Betreuer von Alba Berlin vor. Man liest, dass Heiko Schaffartzik vor den Spielen gern in der noch leeren Halle ein Buch liest, dass Yassin Idbihi ein enorm politischer Mensch ist und mit Vorliebe über Obama, Bin Laden und Co. diskutiert. Man erfährt, dass Co-Trainer Bobby Mitev ein komischer Kauz ist und warum Steffen Hamann im Vorjahr das Team verlassen musste.
Man ist regelrecht dankbar, dass Pletzinger bei seinen Beschreibungen kein Blatt vor den Mund nimmt: Auch in der Kabine oder im Bus einer Profimannschaft wird gefurzt, es wird mit Wörtern wie „fic**n" und „f**k" nur so um sich geworfen. Die notwendigen Basketballszenen, die in „Gentlemen, ..." sicher nicht zu kurz kommen, erläutert Pletzinger dank seines Sachverstandes treffend und verständlich, ohne platt zu werden.

Es geht um mehr als die BBL-Saison 2010/2011

Sie sind aber nicht der eigentlich Grund, warum ich mich in dieses Buch verliebt habe. Denn dieses Buch ist so viel mehr als die Geschichte von Albas Saison 2010/2011. Es ist ein Buch über den Basketball an sich, sogar über den Profisport allgemein. Es ist eine Geschichte über die Liebe zum Spiel, über Gruppendynamiken, über Psychologie und das Leben als Leistungssportler.
Pletzinger hat sich während dieses Jahres (und vermutlich darüber hinaus) viele Gedanken gemacht und teilt seine Erkenntnisse mit seinen Lesern. Erkenntnisse wie diese: „In Momenten der Entscheidung sind Basketballspiele aus Glas. Gute Spieler sehen kristallklar, was passiert. Für die Zuschauer ist das ähnlich. Die Zeit scheint langsamer abzulaufen. Jede Bewegung, jede Angriffs- oder Verteidigungssituation ist sofort lesbar und interpretierbar. Jeder Augenblick ist gewichtig. [...] Als Zuschauer liest man das Spiel und jeder Angriff schreibt ein neues Kapitel. Man sieht, man versteht und fühlt in Wellen, man leidet, man ahnt, man fürchtet, man hofft. Die Abergläubischen, die Mystiker und die Religiösen kennen das Ergebnis. Die besten Spieler sehen alle Möglichkeiten. In knappen Spielen ist unser Wissen ein Hin und Her."
Und nicht nur Pletzinger gibt seine Weisheiten zum Besten. Dank des engen Kontakts zum Trainerteam konnte er auch Pavicevic und Katzurin einige Weisheiten entlocken. So sagt Pavicevic etwa: „Willst du ein wirklich guter Basketballprofi sein, must du immer professionell sein. Du musst professionell trainieren, spielen und professionell mit Menschen umgehen. Du musst sogar professionell schlafen. Du musst dich professionell erholen. Das Ganze ist ein Business, also musst du professionell existieren."

„Hier beginnt der Spaß!"

Überhaupt ist das enge Verhältnis, dass Pletzinger im Verlaufe der Geschichte zu den Coaches sowie zu Kapitän Patrick Femerling entwickelt, der eigentliche Clou des Buches. So kann man im Hirn dieser Basketball-Weisen, die schon so viel gesehen und erlebt haben, lesen wie in einem offenen Buch.
In den regelmäßigen Kafferunden mit Pavicevic, einem gemeinsamen Basketball-Nachmittag vor dem Fernseher mit Femerling und Plaudereien mit Teammanger Mithat Demirel erzählen Pletzingers Gesprächspartner von ihrer Sicht der Dinge, man fliegt von Zeile zu Zeile und staunt. Denn man dachte schließlich, dass man schon alles über Basketball wusste. Als Krönung wird das Buch im Mittelteil durch ein Interview mit Marco Baldi unterbrochen.
Wem diese Gespräche zu philosophisch sind, der findet in diesem Buch allerhand Trauriges, Dramatisches und Lustiges, um sich dennoch bestens zu unterhalten. Pletzingers Sprache ist euphorisch und emotional, leicht verständlich und angenehm unprätentiös.
Vor allem hat Pletzinger einen sehr feinen Sinn für Humor. Nach dem verlorenem Spiel vier gegen Oldenburg, die Stimmung im Team ist erwartungsgemäß übel, schreibt er: „Wir finden ein geöffnetes McDonald’s und kaufen ein. Zu jedem Menü gibt es einen Luftballon mit der Aufschrift ‘Hier beginnt der Spaß!’." Eins ist allerdings auch dem Autor dieses fantastischen Buches nicht gelungen: Er hat die schweigsamen Amerikaner Julius Jenkins und Immanuel McElroy nicht knacken können. Jenkins vergräbt sich das ganze Buch über unter seinen riesigen Kopfhörern, die für ihn einen Schutz vor der Außenwelt darstellen, McElroy ergeht sich in permanentem Heimweh und Einsiedlertum. Wer einzig und allein hofft, diese beiden Ausnahmetalente der BBL näher kennen zu lernen, wird vermutlich enttäuscht sein. Alle anderen werden „Gentlemen, ..." erleuchtet zur Seite legen. Und jede Minute des Lesens genossen haben.
Aufrufe: 4119 | Kommentare: 4 | Bewertungen: 4 | Erstellt:16.01.2012
ø 9.8
KOMMENTARE
Um bewerten und sortieren zu können, loggen Sie sich bitte ein.
NuggetRabbit
17.01.2012 | 20:45 Uhr
0
0
17.01.2012 | 20:45 Uhr
0
Hört sich gut an, ist vorgemerkt.
0
kollederboss
17.01.2012 | 21:46 Uhr
0
0
17.01.2012 | 21:46 Uhr
0
nur so aus neugierde, warum musste hamann denn gehen?^^
0
PhilippDornhegge
REDAKTEUR
17.01.2012 | 23:12 Uhr
0
0
PhilippDornhegge : @kollederboss
17.01.2012 | 23:12 Uhr
0
PhilippDornhegge : @kollederboss
Aus dem Buch: "Der Coach und die Vereinsführung waren während der beiden gemeinsamen Spielzeiten zu der Überzeugung gekommen, dass Hamanns Qualitäten in erster Linie Image und Marketing gewesen waren, sein Kampfgeist auf Außenwirkung bedacht, eine Aufopferung für das Rampenlicht. Hamann habe richtigen Einsatz nur dann gezeigt, wenn ihm jemand dabei zugesehen habe. Er hätte zum Spielmacher und Kopf der Mannschaft werden sollen, aber er habe keinen Aspekt seines Spiels verbessert. Hamann hatte zu viel nebenher gemacht, zu viel dieses und jenes."
0
BadWizard
18.01.2012 | 00:03 Uhr
0
0
BadWizard : 
18.01.2012 | 00:03 Uhr
0
BadWizard : 
Mensch, da hat jemand Steffi verstanden :D
0
COMMUNITY LOGIN
Du bist nicht angemeldet. Willst Du das ändern?
Benutzername:
Passwort:
 

Wir aktualisieren unsere Nutzungsbedingungen und unsere Datenschutzrichtlinie. Wir haben neue Community-Richtlinien zur Inhaltsnutzung - Verhaltenskodex eingeführt und mehr Informationen darüber bereitgestellt, wie wir Ihre Daten erheben und nutzen. Indem Sie unsere Website und unsere Dienste weiterhin nutzen, stimmen Sie diesen Aktualisierungen zu.
Neueste Kommentare
Ribery86
Artikel:
Hat Schumacher schon Recht. Irgendwie merkwürdig das RB das so weiter laufen
29.04.2024, 19:38 Uhr - 4 Kommentare
LegacyLeBron
Artikel:
*Schnell sein Name
29.04.2024, 19:36 Uhr - 23 Kommentare
PDZ
Artikel:
Früher haben wir alle Sohn von FIFA Präsidenten Witze gemacht, aber es passi
29.04.2024, 19:31 Uhr - 8 Kommentare
das_orakel
Artikel:
was soll fröhlich auch machen. Dieser Schiri steht sinnbildlich dafür, was b
29.04.2024, 19:26 Uhr - 39 Kommentare
jesse01
Artikel:
frage mich immer warum Zverev in Madrid immer nightsession spielen muss imme
29.04.2024, 19:24 Uhr - 0 Kommentare
jackson
Artikel:
... oder meinst du die "TeilweiseLeute" ?
29.04.2024, 19:09 Uhr - 20 Kommentare
RosieFan19
Artikel:
@Bigpoppapump84 Nein, dann wären die Lakers immer noch über der Cap space Gr
29.04.2024, 19:09 Uhr - 12 Kommentare
Abalone
Artikel:
Für mich steht UH erstmal für den Erfolg der letzten Dekaden und den FCB uni
29.04.2024, 19:09 Uhr - 150 Kommentare
M4FCB
Artikel:
29.04.2024, 19:09 Uhr - 10 Kommentare
Tysse
Artikel:
Wie immer - Olaf schwurbelt was rum, was klar als komplette Ahnungslosigkeit
29.04.2024, 19:07 Uhr - 39 Kommentare