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16.06.2009 um 15:05 Uhr
Gastarbeiter in der Türkei
Rollenspiel. Du bist Fussballer. Profi. Nach einigen Jahren stehst du an einem wichtigen Punkt deiner Karriere, denn dein Vertrag läuft aus. Begehrt wie du bist, flattern auch schon die ersten Angebote ins Haus. Dein aktueller Verein will dich behalten, klar. Und auch einige andere Vereine aus deiner Heimatliga zeigen Interesse, für die ganz großen Fische in Europa reicht es noch nicht. Und dann ist da noch ein Angebot aus der Türkei..Türkei?

Die Affinität des türkischen Fussball für ausländische Fachkräfte, egal ob aktiv oder leitend, hat ihren Ursprung in der Amtszeit des Jupp Derwall in Istanbul.

Nach dem Ausscheiden in der Vorrunde der EM 1984 hatte der damalige Bundestrainer in seinem Heimatland, in dem er immer schon kritisch gesehen und spöttisch "Häuptling Silberlocke" genannt wurde, keine Zukunft mehr. Schon immer schien er der Fachwelt zu weich für den Posten des Nationaltrainers zu sein, und nach der schwachen EM schossen sich Boulevard und Fans gleichermaßen auf Derwall ein, sein Rücktritt war die logische Folge.
Zur Überraschung aller nahm er gleich danach ein Angebot von Galatasaray in der Türkei an. Dort kannte man Taktik und Fitness nur aus dem Sportlexikon und international kam man in schöner Regelmäßigkeit unter die Räder. Galatasaray war 17 Jahre lang nicht mehr Meister geworden und setzte alle Hoffnungen auf den neuen Deutschen.
In der Türkei selbst hat Deutschland seit jeher einen hervorragenden Ruf, und so hört man als hier lebender Türke im Heimaturlaub immer das Gleiche : He Deutscher, wie ist es denn dort so? Hat wirklich jeder mit 18 schon sein eigenes Auto? Du fährst doch bestimmt einen Mercedes oder? Verdient man in Almanya wirklich so leicht gutes Geld?
Diese Bewunderung wird und wurde auf den Fussball eins-zu-eins übertragen. Und so hieß es damals bei den Anhängern: Jetzt muss doch was gehen, der Herr Nationaltrainer Derwall! Aus Deutschland!
Und Herr Derwall enttäuschte nicht. Mit seiner offenen und symphatischen Art machte er sich bei den Fans beliebt und durch seine modernen Trainingsmethoden hob er seinen neuen Arbeitgeber auf ein neues Niveau. Unter seiner Leitung gewann der Verein nach der langen Durststrecke in nur vier Jahren je zweimal die Meisterschaft und den Pokal. Heute trägt das Trainingsgelände des Vereins seinen Namen und Derwall ist der Hauptgrund dafür, dass der türkische Fussball sich seit jeher auch durch ausländische Beihilfe definiert.



Zurück zum Rollenspiel. Der türkische Verein bietet dir ein stattliches Gehalt, viel mehr als du bei deinem aktuellen oder den anderen in Frage kommenden Klubs bekommen würdest. Außerdem hast du vor ein paar Jahren Bilder von Ailton mit Krone am Bosporus gesehen und auch von Christoph Daum weißt du, dass er dort wie ein Heiliger behandelt wird. Du kommst ins Grübeln. Türkei? Geld und Verehrung, schön und gut, aber bekommt man da überhaupt, was versprochen wurde? Und sind die Fans und die Presse nicht etwas zu fanatisch?

Wenn man in der Türkei sein Geld mit Fussball verdient, ist vieles anders, überraschend, neu, manchmal auch schockierend, erdrückend.
In den letzten Jahren haben viele große Namen den Weg an den Bosporus gewählt. Milan Baros, Roberto Carlos oder Harry Kewell hatten zwar sicherlich nie das Ziel, einmal in der Süperlig zu spielen, konnten aber trotzdem nach Istanbul gelockt werden, sei es aus finanziell-, alters- oder leistungsbedingten Gründen.



Der Verlauf des Aufenthalts in dem Land hängt von vielen Faktoren ab und kann für sie alle Facetten bereithalten, von Freude, Erfolg und Neue-Heimat-finden bis Enttäuschung, Verloren-Sein und schnellstmöglicher Flucht.
Ausländische Spieler oder Trainer werden immer hochgejubelt, bevor sie auch nur einen Fuß in das Land gesetzt haben, und die fanatische Leidenschaft der Fans erreicht unglaubliche Höhen, die Medien stehen dem in Nichts nach. Man wird entweder hochgejubelt oder verschmäht, eine Grauzone zwischen den Extremen gibt es nicht. Wenn ein ausländischer Transfer unter Dach und Fach gebracht wird, gehört ein gebührender Empfang am Flughafen durch Vereinsführung und Fans inklusive Sprechchören und Auf-Schultern-Tragens zum guten Ton.

Das kann jedoch schnell vorbei sein. Eine Niederlage im Stadtderby -egal ob gutes Spiel oder schlechtes Spiel, egal ob nur einzelne Spieler versagt haben oder alle- und schon kann es sein, dass die Fans versuchen die Autos der Spieler zu stürmen oder den Mannschaftsbus mit Steinen schmücken.



Das ist aber meistens schnell vergessen. Wenn die türkische Öffentlichkeit einen Fussballer in sein Herz geschlossen hat, lebt dieser wie ein Fürst. Der Weg dorthin ist am Ehesten mit folgender Kombination zu erreichen: gute Leistungen verbunden mit einem exzentrischen Charakter.So hat es schon so mancher zur Vereinslegende gebracht.Gheorghe Hagi bei Galatasaray, Christoph Daum gleich bei zwei Klubs (Besiktas und Fenerbahce), Pascal Nouma bei Besiktas.

Nouma? Nicht bekannt? Nun, in der Türkei schon. Sogar mehr als das, bei den Besiktas-Fans wird er vergöttert. Nouma schoss während seiner Zeit in Istanbul (2000-01 und 2002-03) einige schöne Tore, aber was fast noch wichtiger schien, war seine unglaubliche Solidarität mit dem Club und den Fans. Er hatte keine Berührungsängste und machte sich mit seiner humorvollen und unterhaltenden Art viele Freunde. Bei seiner zweiten Ankunft ließ er unter Tränen verlauten: "Dieses Stadion ist meine Heimat, hier gehöre ich her! Niemand bringt mich hier wieder weg, begrabt mich in diesem Stadion!" Deswegen hallt heute noch sein Name durch seine vermeintliche Wunsch-Begrabungsstätte.
Doch auch bodenständige Spielertypen a lá Fabian Ernst können in der Türkei sehr beliebt werden. Ernst kam im Winter zu Besiktas und stabilisierte von Anfang an das Mittelfeld. Vor kurzem wurde er Meister, verdient sehr gut und bekam den wunderschönen Spitznamen "Deutscher Panzer" verpasst. Was will man mehr?



Also was tust du? Annehmen?
Das Fussballerleben in der Türkei ist komplex: Himmel und Hölle, Held und Loser, Glück und Enttäuschung sind nah beieinander, wechseln sich ab und vermischen sich. Eines ist aber sicher: es wird was los sein. Und die Chancen stehen gut, dass es eine schöne Zeit wird. Viel Erfolg in der Türkei, Junge!
Ach nee halt, war ja nur ein Spiel...Schade.


Aufrufe: 6745 | Kommentare: 28 | Bewertungen: 40 | Erstellt:16.06.2009
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KOMMENTARE
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donluka
17.06.2009 | 14:27 Uhr
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donluka : 
17.06.2009 | 14:27 Uhr
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donluka : 
Toller Blog!

Zum Einen sehr gut geschrieben, zum Anderen greift er ein Thema auf, das hier selten bis nie zum Gegenstand gemacht wird und das dann auch noch auf eine sehr plastische und beeindruckende Art und Weise!

10P!!!
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takko
17.06.2009 | 14:51 Uhr
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takko : schön
17.06.2009 | 14:51 Uhr
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takko : schön
sehr gut geschrieben. ein paar negative beispiele haben lediglich gefehlt ;)
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WalkTheLion
17.06.2009 | 15:08 Uhr
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17.06.2009 | 15:08 Uhr
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Habe mir die anderen Kommentare bewusst nicht durchgelesen - so kann ich unbefangener meine (natürlich subjektive) Meinung äußern:

Lese hier sehr gerne und auch sehr regelmäßig die Blogs - und deiner gehört sicherlich zu den Besten, die ich bisher bei Spox gelesen habe. Weiß nicht, ob es daran liegt, daß du ein tolles und spannendes (weil in diesem Stil neues) Thema aufgegriffen hast, oder daran, daß du dieses Thema hervorragend in Worte gekleidet hast...

Weiter so - ich freu mich schon bald wieder von dir zu lesen

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Andreana
17.06.2009 | 15:14 Uhr
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Andreana : 
17.06.2009 | 15:14 Uhr
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Andreana : 
Ich liebe solche Blogs denn die eröffnen mir neue Horizonte bin nämlich eigentlich nicht so ein Typ der immer über den Tellerrand schaut deswegen freue ich mich auf so User wie Zarahustra, Epidemka und dich die mir auf kurzem Wege Einblicke in einer "anderen Welt" geben. Ich habe hier dank euch schon viel gelernt.

Ganz ganz großes Kino - 10 Punkte!
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kikipedia
17.06.2009 | 15:27 Uhr
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kikipedia : 
17.06.2009 | 15:27 Uhr
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kikipedia : 
Gut gemacht! Schönes Rollenspiel, vielleicht läuft das bei einigen Leuten wirklich so ab :D
Oder eben 20 Jahre später, wenn sie sogar für meinen AC Milan zu alt und langsam sind (Ja, Emerson, ich rede mit DIR!)

So ein Derby würde ich ja auch gerne mal spielen, aber ansonsten ist die Liga absolut nicht reizvoll, abgesehen vom Geld und frühem Ausscheiden.

Eine weitere, zweitklassige Liga voller teurer Ausländer bei SEHR wenigen Topklubs, vielleicht sollten sich türkische und russische Vereine verbünden *feixt*
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gartenzwerg
17.06.2009 | 16:48 Uhr
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17.06.2009 | 16:48 Uhr
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Spannender Blog!
Macht Lust auf mehr!
Ten Points
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uk38
17.06.2009 | 18:25 Uhr
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uk38 : 
17.06.2009 | 18:25 Uhr
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uk38 : 
Klasse Blog. 10 Punkte.
Du stellst die Situation eines Fußballers oder Trainers in der Türkei sehr gut dar.
Entspricht also der Wahrheit..
Außerdem ist der Blog für die User, die sich mit der türkischen Süper Lig vielleicht nicht so gut auskennen, sehr informativ..
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midget
17.06.2009 | 21:20 Uhr
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midget : 
17.06.2009 | 21:20 Uhr
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midget : 
fein, fein!

wirklich sehr interessant geschrieben, auch wenn man vieles schon erahnen konnte. gerade durch daum wurde ja vieles auch in die kölner presse getragen was am bosporus so abgeht.
schau mir ab und an spiele im ligtv an und muss sagen, dass die stimmung in der türkei schon toll ist.

ich denke , um zurück zum rollenspiel zu kommen, auf leihbasis würde ich mal hingehen. hab nämlich bedenken mit dem essen.
wohnte mal in kreuzberg und was soll ich sagen. dürüm ist schon hart an der grenze bei mir ;)

10 punkte super blog!
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CescFabregas
17.06.2009 | 21:20 Uhr
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17.06.2009 | 21:20 Uhr
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geiler blog !!!!

einer der besten die ich je gelesen habe :D

als ich so die ersten zeilen gelesen habe dachte ich dass du jetzt die türkische liga in die höhe schreiben wirst aber du bist neutral geblieben und sachlich geschrieben hammer 10P !

unsere liga wird immer besser...jetzt mit Rijkaard is ja ein weltbekannter trainer nun bei GS :D
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iLo
17.06.2009 | 22:11 Uhr
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iLo : Wow
17.06.2009 | 22:11 Uhr
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iLo : Wow
Klasse Ding!
Von der ersten bis zur letzten Zeile war dein Blog sehr interessant zu lesen, einfach klasse. Of course 10 points
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