Ein Alptraum für die Konkurrenz

Von Christoph Köckeis
Glückwunsch! Gregor Schlierenzauer feierte mit dem 2. Tourneesieg in seinen 23. Geburtstag hinein
© Getty

Die 61. Vierschanzentournee ist Geschichte. Samt Titelverteidigung des Rekordjägers Gregor Schlierenzauer, mit der vielleicht stärksten deutschen Mannschaftsleistung aller Zeiten und zarten Podesthoffnungen für die Zukunft. Daneben gab es jedoch etliche Störgeräusche: Zu steife Schuhe, zu weite Anzüge, zu subjektive Punktrichter. SPOX hat die Tops und Flops.

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Tops

Rekordjäger Gregor Schlierenzauer: Superlative begleiten den Tiroler seit jeher: Im zarten Alter von 16 begann der kometenhafte Aufstieg. Und war bis heute nicht zu stoppen. Er ist der König der Lüfte, verteidigte den Tournee-Titel mit dem 45. Weltcupsieg in beeindruckender Manier. "Unter extremem Druck reifen die schönsten Diamanten", posaunt Mädchenschwarm "Schlieri" selbstbewusst. Er darf es sich leisten.

Ein Erfolg trennt den 23-Jährigen noch vom Rekord Matti Nykänens. Jenen wird er nicht nur einstellen. Er wird ihn zertrümmern. Für DSV-Trainer Werner Schuster ist Schlierenzauer bereits der "Beste aller Zeiten. Er hat die fast unschlagbare Kombination aus Arbeitswille und Talent, ist ein Botschafter des Sports." Toni Innauer, Olympiasieger von 1980, setzt das Loblied fort: "Er drückt dem Skispringen seinen Stempel auf, möglicherweise über Jahrzehnte." Ein Alptraum für die Konkurrenten.

Die starke deutsche Mannschaftsleistung: Die Suppenhühner reiften zu jungen Adlern. Noch 2010 wurde die DSV-Armada verspottet, nachdem kein Deutscher die Top Ten knackte. Diesmal überzeugte vor allem die mannschaftliche Geschlossenheit auf hohem Niveau. Gleich fünf DSV-Adler - Michael Neumayer (6.), Andreas Wellinger (9.), Martin Schmitt (10.), Richard Freitag (11.) sowie Severin Freund (13.) - schafften den Sprung unter die besten 15 in der Tournee-Gesamtwertung.

"Von der Team-Präsenz sind wir so gut wie lange nicht mehr, vielleicht so gut wie noch nie", lobt Schuster. Doch auch er weiß: "In der absoluten Spitze ist die Tournee an uns vorbei gelaufen." Freund kratzte am Podium, versagte in Bischofshofen jedoch kläglich. Zum großen Wurf fehlt (noch) der Killerinstinkt. Die Nervenstärke, um im entscheidenden Moment abzuliefern. Zuzupacken und nicht mehr los zu lassen.

Der Fanjubel - Ein Hauch von 2001/2002: Plötzlich war sie zurück. Die elektrisierende Atmosphäre. Die Aufbruchsstimmung. "Ziiiiiiieeeehhhh", schrien Tausende ihren Lieblingen zu. Sie fieberten mit, drückten die Daumen. Irgendwie fühlte sich manch Nostalgiker erinnert an den historischen Grand Slam 2001/02. Ganz Deutschland zitterte damals mit Sven Hannawald.

Nun sonnten sich Freund, Wellinger und Co. im landesweiten Rampenlicht. Mit ihrer unbekümmerten, erfolgreichen Art eroberten sie die Herzen, polierten das verstaubte Skisprung-Image auf. Dass der öffentliche Druck das Team belastete, kam nicht unerwartet. Damit lernt man umzugehen. Für den Moment viel wichtiger ist: Der Sport boomt wieder.

Die Jungspunde: Insider grübelten zu Saisonbeginn über den Namen Wellinger. Auch die Internetsuche spuckte wenig Informatives aus. Folglich wurden dem 17-jährigen Newcomer in den vergangenen zwei Monaten Portraits zuhauf gewidmet. Einst suchte er in der Nordischen Kombination das Glück, quälte sich über die Loipen. Irgendwann hatte er die Schnauze voll, wechselte komplett auf die Schanze, avancierte dort unter Werner Schuster zum großen Versprechen.

Während hierzulande solch Talente rar gesät sind, wachsen sie südlich der Grenzen förmlich an den Bäumen. Die jüngste Entdeckung: Stefan Kraft. 19 Jahre alt, segelte er zum Tournee-Abschluss in seiner Heimat Salzburg auf Rang drei. Er ist das Gegenstück zu dem Bayern. Die deutsch-österreichische Rivalität wäre also für die Zukunft schon einmal gesichert.

Flops

Der Materialkrieg: "Es herrscht ein Materialkrieg. Das Absolute wird ausgereizt", sprach Bundestrainer Schuster Klartext. Über das Ziel hinaus schoss ausgerechnet Andreas Kofler. Einer aus der übermächtigen Skisprung-Nation. Mitfavorit und Gewinner 2009/10. Seine Arbeitsuniform fiel gleich um sechs Zentimeter zu weit aus. Zufall? Wohl kaum, ist er doch Wiederholungstäter. Bereits beim Weltcup-Auftakt ließ sich der Österreicher nicht einengen.

Indes wandeln die Norweger um Anders Jacobsen bei der Fußbekleidung an der Grenze zur Illegalität. Verlängerte Zungen versteifen den Schuh und bieten dem Springer vorm Schienbein mehr Halt. Dass finanziell weniger gut ausgestattete Nationen wie Japan und Finnland beim Wettrüsten auf der Strecke bleiben, ist die logische Konsequenz. "Es geht um Geld und Prestige", so Schuster, der klarstellt: "Wir sind Deutsche, wir sind fair." Und wir warten seit 2002 auf einen Tourneesieg. Dafür mit Anstand...

Die Punktrichter: Apropos Fairplay: Ästhetik liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Doch manch Auge schien bei der Tournee geschlossen zu bleiben. Anders sind derartige Diskrepanzen in der Notengebung kaum zu erklären. Es gehört scheinbar zur Tradition, die "Feinde" zu benachteiligen. Früher, weit vor der geeichten Messung, verschätzte sich manch neutraler Weitenrichter eben um einige Meter. Nunmehr geschieht es diskreter. Verborgen bleibt es glücklicherweise nicht.

Alexander Pointner, ÖSV-Cheftrainer, lederte in Garmisch-Partenkirchen gegen die Punktrichter. Er wähnte Wolfgang Loitzl unterbewertet.

Nicht anders erging es den Deutschen, insbesondere Michael Neumayer. Bei aller Rivalität sollte der sportliche Gedanke niemals in den Hintergrund rücken. Und wer bewertet eigentlich die Jury!?

Gekachelte Landungen: Fliegen können sie, diese Russen. Allen voran Dimitry Vassiliev. Über Jahre machte sich der 33-Jährige als Absprung-Monster einen Namen. Warum der Premieren-Erfolg im Weltcup auf sich warten lässt, wird schließlich bei der Landung augenscheinlich. Mit dem Telemark steht er nämlich seit geraumer Zeit auf Kriegsfuß.

Wie meinte der "Eurosport"-Kommentator Dirk Thiele so schön: "Bei der Landung ist er eine Sphinx." Regelmäßig kosten ihm Unsicherheiten Punkte, Podestplätze oder Medaillen. Das liegt sicherlich auch an Vassilievs schweren Knieverletzungen der Vergangenheit. Dem chronisch wackligen Aufsprung scheint man allerdings im gesamten Team nicht Herr zu werden. Zuletzt erwischte es Denis Kornilov in der Quali in Bischofshofen. Glücklicherweise kam er mit Prellungen davon. Wir wünschen uns künftig sichere Landungen!

Der 6. Januar: Es war ein rabenschwarzer Sonntag! Mit hohen Ambitionen kletterte DSV-Ass Freund auf den Zitterbalken der Schattenbergschanze. Diese lösten sich wenige Sekunden danach in Luft auf. Der angestrebte Podest-Platz war dahin. Sogar der zweite Durchgang blieb ihm verwehrt. "Er wollte es erzwingen. Er dachte, seine Stunde schlägt, hatte dann aber ein Blackout", erklärt Schuster.

Minuten danach hatte der Bundestrainer dann doch etwas zu bejubeln: 133,5 Meter von Wellinger bedeuteten die Bestweite vor Schlierenzauer. Doch der befreiende Schrei blieb Schuster im Halse stecken. Beim Ausfahren zu früh die Faust geballt, verschnitt sein Youngster - und landete noch vor der rettenden Sturzlinie unsanft auf dem Hosenboden. Ohne Sturz wäre zumindest ein Spitzenplatz greifbar gewesen, womöglich mehr. So löste Wellinger den schwarz-rot-goldenen Super-GAU aus. Die Top-Leistungen bei dieser Tournee sollten dennoch nicht hinter dem schwarzen Sonntag von Bischofshofen verblassen.

Vierschanzentournee: Die Gesamtwertung

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