Ein Herzinfarkt hält sie nicht auf

Von Carsten Germann
Ground-Hopper Graeme Clarke (l.) und Harvey Harris (r.) mit SPOX-Reporter Carsten Germann
© Getty
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Herzinfarkt zur rechten Zeit

Das Jahr 1982 markiert einen Wendepunkt in der unglaublichen Fankarriere des John Dawson. "Damals haben sie die Nachtzüge abgeschafft", erklärt er, "damit war es nicht mehr möglich, ständig die großen Distanzen zwischen den Spielstätten der Profiligen zurückzulegen. Das war schlecht, denn die Sitzabteile der Nachtzüge von British Rail eigneten sich hervorragend zum Schlafen."

Der ehemalige Fabrikarbeiter Dawson wechselte 1979 zur Post. Ein Job, der für den Fußballsüchtigen wie gemalt ist: Fünf bis sechs Mal pro Woche arbeitete er von fünf Uhr morgens bis 12 Uhr mittags, ehe er sich auf sein Moped schwang und zum nächsten Spiel aufbrach. "Die Bypass-Operation", sagt John trocken, "war das Beste, was mir passieren konnte. Die Post hatte nämlich gerade die zweimalige Briefauslieferung abgeschafft, da hätte ich sehr ungünstige Arbeitszeiten bekommen."

Keinen Bock auf Premier League

In den britischen Top-Ligen ist die Luft für die Fußballverrückten aus Yorkshire mit der Zeit immer dünner geworden. Sie haben fast alle großen Stadien gesehen, sich bei Zeiten vom Glanz der englischen Eliteliga verabschiedet.

Auch gedanklich. "Ich hasse die Premier League und alles, was damit zu tun hat", sagt Harvey Harris, während auf der Großbildleinwand im Klubheim von Staines Town die Partie der Tottenham Hotspurs gegen die Blackburn Rovers zu sehen ist, "allein die Eintrittspreise sind einfach nur verrückt." John Dawson sieht es ähnlich: "Auf den kleinen Non-League-Grounds gefällt es mir heute viel besser, in der Premier League ist das Essen teurer und schlechter".

Auf der Bahre ins Stadion

Wenn es schon Eliteliga sein soll, dann wenigstens für lau. Wie vor ein paar Jahren in Tottenham. "Ich war mit meinem Sohn ohne Tickets an der White Hart Lane", verrät Harvey Harris mit diebischem Grinsen, "und tat so, als hätte ich mich auf dem Weg zu den Drehkreuzen bei einem Sturz am Bein verletzt. Man brachte eine Tragbahre und als ich im Sanitätsraum fertig war, durfte ich zur Entschädigung mit meinem Sohn zusammen das Spiel der Spurs im Innenraum des Stadions anschauen." Irgendwie clever.

Ganz andere Verhältnisse kennt Graeme Clarke von einem Ausflug zum Amateurklub Stanley United in Yorkshire: "Dort mussten sich die Spieler in einem privaten Wohnzimmer umziehen." In East Stirlingshire in Schottland, so weiß Clareke, wurde sogar eine Pförtlerloge zur Kabine unfunktioniert.

Bei den Spielbesuchen gibt es für die Groundhopper - mehrere hundert sind in Großbritannien organisiert - klare Regeln. Dazu gehört das "Circumnavigating", der Rundgang um den Platz. "Ein Ritual", erklärt Graeme Clarke, "wir versuchen, jeden Ground, den wir besuchen, auch einmal komplett zu umwandern. In den Amateurligen geht das natürlich besser als in der Premier League." Und der Bovril darf nicht fehlen. Dieses außerhalb Großbritanniens nur wenig bekannte Getränk, das auf Basis eines Rindfleischextrakts hergestellt wird und nach Maggi-Würze schmeckt, wärmt ganze Generationen fröstelnder Groundhooper auf.

"A fateful day"

Gemeinsam unterwegs sind die Fan-Veteranen Graeme und John allerdings erst seit der Saison 1990/91. "A fateful day", ein verhängnisvoller Tag, wie Graeme mit gequältem Lächeln meint. "Ich erinnere mich gut daran", erzählt er, "es war eine trostlose Nullnummer in Yorkshire zwischen Bridlington und Tow Law. John Dawson sprach mich auf der Toilette an. Er meinte nur, dass er mich schon einige Male bei Spielen gesehen hätte. Seitdem fahren wir zusammen."

Mit dem eigenwilligen John verbindet Graeme Clarke seitdem eine herzliche Freundschaft. Nur wenn es um ihre Klubs geht, sind sich die beiden Oldies spinnefeind. Das Duell zwischen Middlesbrough und Newcastle gehört zu den größten Derbys in England. "Ich wünsche mir, dass ich in meiner Karriere noch einmal ein Spiel sehe, in dem Newcastle United mit 0:10 untergeht. Das wäre ein guter Moment, um zu sterben", scherzt Graeme.

Für Clarke ist das UEFA-Cup-Halbfinale 2006 mit dem FC Middlesbrough und Steaua Bukarest (4:2) der Höhepunkt seiner Fan-Karriere. Diese denkwürdige Partie, in der "Boro" nach 0:1 im Hinspiel noch weiterkommt, hat er aber ohne seinen Schatten John Dawson angesehen: "Ich hätte ihn umgebracht, wenn er an diesem Abend dabei gewesen wäre."

Zukunftspläne eines Rentners

Graeme Clarke und John Dawson - in England spielen sie in einer eigenen Liga. Und auch wenn das Duo in Sachen Vereinsliebe über Kreuz liegt, so sind sich die beiden in einem Punkt doch einig: Ans Aufhören verschwendet die Rentnerband keinen Gedanken. "Wir sind mit dem Fußball verheiratet", lacht Graeme, "und ich werde bis zu meinem letzten Atemzug Spiele besuchen." Auch John Dawson hat mit 68 noch Zukunftspläne: "Ich will so viele Amateurplätze besuchen wie möglich. Warum auch nicht? Als Rentner kann ich ja alle Busse kostenfrei nutzen. Mir macht es Spaß, ich bin immer noch aufgeregt, wenn ich einen neuen Platz besuche."

Dass der alte Dawson in der Groundhopper-Clique die absolute Nummer Eins ist, hört Graeme nur ungern: "John ist ja auch 14 Jahre älter als ich. Aber irgendwann hole ich den Kerl schon noch ein."

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