Aktenzeichen RS C-415/93

Von Stefan Rommel
Bosman als Werbefigur für die freie Berufswahl von Arbeitnehmern in der EU
© Imago

Einmal Hölle und zurück: Vor 15 Jahren veränderte das Bosman-Urteil den Fußball. Alle haben davon nur zu üppig profitiert. Nur einer nicht: Jean-Marc Bosman selbst. Die Geschichte eines tragischen Helden.

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Der Teufel sieht heute aus wie der etwas pummelige Nachbar von nebenan. Aber er ist immer noch wütend.

Villers-L'Eveque, eine 1700-Seelen-Gemeinde in der Peripherie von Lüttich. Hier wohnt der Mann, der die Grundfesten des Fußballs erschüttert hat. Der pubertierende Teenager zu Multimillionären gemacht hat und einige der größten Verbände der Welt in schwere Agonie stürzte.

Hier wohnt Jean-Marc Bosman. Teufel, Revoluzzer, Spielverderber, Rebell, Antiheld, Wichtigtuer und Heilsbringer in einem. Der Mann, der einem ohnehin schon ziemlich aus den Fugen geratenen Fußballgeschäft eine Explosion ungeahnten Ausmaßes bescherte.

Fünf Jahre vor Gericht

Der Ursprung seiner Geschichte mit nur einem Sieg, aber unzähligen Niederlagen ist jetzt 20 Jahre her. Bosman ist 26 und spielt beim kleinen RFC Lüttich in der ersten belgischen Liga. Kein überragender Kicker, aber immerhin einst Junioren-Nationalspieler seines Landes.

In der Sommerpause überwirft er sich nach einem Streit mit seinem Verein, der ihm sein Gehalt bei einem Folgevertrag auf 40 Prozent kürzen will, statt rund 3500 soll er nur 900 Euro Grundgehalt monatlich verdienen. Der USL Dünkirchen im benachbarten Frankreich bekommt Wind von der Sache und buhlt um Bosman.

Der will auf der Stelle weg, Lüttich stellt sich quer und legt die Ablösesumme willkürlich auf 800.000 Dollar fest. Eine völlig utopische Gewichtsklasse für einen Zweitligisten wie Dünkirchen.

Im August 1990 tritt Bosman daraufhin eine Klagewelle los, die sich über insgesamt drei Gerichtsbarkeiten, fünf Jahre und über ein Dutzend Instanzen ziehen sollte.

Ein Tag für die Ewigkeit

Am 15. Dezember 1995 fällt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) von Luxemburg die Entscheidung: 146 Absätze umfasst die Entscheidung, Bosmans Anklage bekommt in allen Punkten Recht, eine Revision ist ausgeschlossen. Aktenzeichen RS C-415/93, Slg 1995, I-4921 wird zu einem Erdbeben.

Das Urteil erschüttert die Fußballwelt auf zwei Ebenen: Bisher wurden Spieler zwischen der Vereine hin- und hergeschoben, Transferentschädigungen gab es auch nach ausgelaufenen Verträgen noch. Ab sofort dürfen Profis aber nach Vertragsende ablösefrei zu einem anderen Verein wechseln.

Und, meist gerne übersehen, aber mindestens genauso spektakulär: Jeder Arbeitnehmer aus der EU hat das Recht auf freie Berufswahl. Für ein System, das bis dato nur drei eingesetzte Ausländer pro Mannschaft erlaubt, ist es das abrupte Ende.

"Es war die schlimmste Katastrophe, die der Klubfußball je erlebt hat", sagt der heutige Vorstandsvorsitzende der Bayern, Karl-Heinz Rummenigge.

Welle der Entrüstung

Die Welle der Entrüstung ist groß. Die Vereine fürchten um ihre Einnahmen aus Transfergeschäften, die Verbände eine Verwässerung ihrer Ligen. Eine Ausländerschwemme setzt ein, zeitweise liegt der Anteil nichtdeutscher Profis in der Bundesliga bei über 60 Prozent.

Immerhin wird der DFB das Problem später mit gezielten Fördermitteln und Maßnahmen in den Griff bekommen und seinen Nachwuchs wieder verstärkt fördern. Anders als zum Beispiel die Premier League, die sich dem neuen Boom hingibt, die Auswirkungen auf die Nationalmannschaft dabei aber außer Acht lässt.

Raus aus dem Geschäft, aber glücklich

Bosman selbst ist zu diesem Zeitpunkt raus aus dem Fußballgeschäft. Er hat alle Energie in die Prozesse gesteckt - und sein Geld auch.

Und selbst wenn er sich nebenbei fit gehalten hätte: Längst gilt er als persona non grata, geächtet von den Gremien und Verbänden, vergessen von seinen Berufskollegen. Kein einziger Profi-Klub fragt wegen seiner Dienste als Profi an. Er macht noch zwölf Spiele für Olympique Saint-Quentin, dann ist Schluss.

Und trotzdem fühlt er sich als großer Gewinner, als er an jenem Tag im Dezember das Gerichtsgebäude verlässt. Die Welt liegt ihm scheinbar zu Füßen. Er hat seiner Zunft alle Türen aufgestoßen. Nur wird er selbst damit nie auch nur einen Cent Reibach machen können.

Schnell kommen die Schulden

Über fünf Jahre hat er kein Geld mehr mit Fußballspielen verdient. Vom französischen Fernsehsender Canal plus bekommt er Jahre später 290.000 Euro, weil er in einem Dokumentarfilm mitwirkte.

Der EuGH spricht ihm rund 300.000 Dollar Wiedergutmachung zu, auf eine Million Dollar Verdienstausfälle und Schadenersatz hatte Bosman geklagt. Nachdem er Steuern und Anwaltskosten bezahlt, bleibt davon kaum etwas übrig.

Trotzdem leistet er sich einen Porsche, aber schon zwei Jahre später wird daraus "nur" noch ein BMW Z4. "Fehlinvestitionen", nennt Bosman das später. Vom kleinen Rest kauft er seiner Schwester ein Häuschen in Villers L'Eveque, das mittlerweile aber wieder den Besitzer gewechselt hat: zu viele offene Rechnungen.

Arbeitslos, alkoholsüchtig und depressiv

Bosman fällt hart und sehr, sehr tief. Er wird immer aggressiver und mürrischer, seine Frau lässt sich von ihm scheiden. Er beginnt hemmungslos zu saufen.

"Wenn sich alle bereichern und du stürzt ins Elend: Das tut sehr weh. Ich bin dem Alkohol verfallen, hatte Depressionen. Wenn ich alleine war, habe ich Musik gehört, habe getrunken, alles vergessen und einfach nur geweint. Der Alkohol war mein Weg, um Probleme zu bekämpfen und die Armut zu vergessen."

Der Tiefpunkt ist erreicht, als er völlig mittellos und schwer gezeichnet von Alkohol, Pillen und Depressionen wieder zu Hause bei seinen Eltern einziehen muss - in die Garage. "Ich hatte Selbstmordgedanken. Damals bin ich durch die Hölle gegangen!"

Viele Versprechen, kaum Hilfe

Dabei waren die Versprechungen groß. Die internationale Spielervereinigung Fifpro, die sich mit ihm schmückte und sogar behauptete, ihn finanziell unterstützt zu haben, stellt ihm in einer mündlichen Abmachung 25.000 Euro jährlich in Aussicht, zehn Jahre lang. Quasi als Gegenleistung für die Mühen und Unkosten, die Bosman für Tausende seiner Berufskollegen geopfert hatte.

Bis heute hat er einmalig 10.000 Euro erhalten. Und einen zynischen Brief von Generalsekretär Theo van Seggelen: "Geld wird deine Probleme nicht lösen. Es ist wichtiger, dass du dein Leben in den Griff bekommst."

Sehr naiv sei er gewesen, soviel weiß er heute auch. "Sie haben mich benutzt. Fußball ist ein sehr egoistisches Milieu. Für die Spieler ist es heute selbstverständlich, dass sie so viel bekommen. Aber sie müssen sich auch mal daran erinnern, warum sie so viel Geld verdienen."

"Es geht um eins: Noch mehr Geld zu machen"

Kein Cristiano Ronaldo, kein Wayne Rooney oder Leo Messi, nicht Mesut Özil oder Bastian Schweinsteiger würden heute so viel Geld verdienen und ihren Klubs so viel einbringen ohne Jean-Marc Bosmans Beharrlichkeit und seinen Starrsinn.

"Am Ende geht es dort doch nur noch um eins: Noch mehr Geld und noch mehr Geld zu machen. Wenn ein junger Spieler in einem Jahr eine Million verdient und im nächsten fünf, dann sagt er sich: 'Ich bin eben fünf Mal besser als letztes Jahr!' Aber manchmal vergessen einige, warum sie soviel verdienen. Wegen mir, wegen dem Bosman-Urteil."

Einmal habe sich Mark van Bommel bei ihm gemeldet. "Wenn ich zu den Bayern wechsle, dann dank dir", hat er ihm geschrieben. Ein paar seiner Kollegen haben auch mal Geld überwiesen, von 100 Euro bis zu niedrigen vierstelligen Beträgen, unter anderem Bundesligaprofis wie Frank Verlaat (VfB Stuttgart), Marc Wilmots oder Michael Goossens (beide Schalke 04).

Er hat die Solidarität deutlich überschätzt. "Es ist, als hätte ich jemandem die sechs richtigen Lottozahlen gegeben, aber dann werde ich nicht am Gewinn beteiligt. Aber so ist das nun mal..."

20 Jahre einfach so verloren

Ein kleines Häuschen aus Klinkersteinen ist ihm heute geblieben. Und seine neue Familie, seine Freundin Carine und sein Sohn, der bald zwei Jahre alt wird. Ein Auto hat er schon lange nicht mehr.

Aber immerhin ist er angeblich seit zwei Jahren trocken. Gegen die Depressionen schluckt er Pillen. 740 Euro Sozialhilfe bezieht Bosman jeden Monat, mehr bleibt nicht. Der pummelige Nachbar ist immer noch wütend und verbittert. 20 Jahre seines Lebens habe er verloren, einfach so.

Aber zumindest lebt er noch. In zwei Monaten erwartet seine Frau sein zweites Kind.

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