Squadra rivoluzionaria

Von Jochen Tittmar
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© Getty

München - Wenn ihnen Unrecht getan wird, ist kein Land der Welt so dramatisch-leidenschaftlich wie die Italiener.

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Wenn man einem Luca Toni oder Filippo Inzaghi beim Lamentieren auf dem Fußballfeld zuschaut, könnte man meinen, dass den internationalen Theaterhäusern talentierte Tragödienschauspieler durch die Lappen gegangen sind. 

Und auch die heimischen Medien reagieren mit theatralischem Zorn, gerade wenn die eigene Leistung auf dem Rasen besonders mies war.

So geschehen nach dem ersten Gruppenspiel der Azzurri gegen die Niederlande (0:3), der höchsten EM-Niederlage aller Zeiten. Ein Schuldiger wird gesucht, der all das Unrecht auf sich laden muss.

Wenn man den Blätterwald am Tag nach der Blamage durchforstet, macht man diesen prompt ausfindig: Plakative Schlagzeilen wie "Disastro Donadoni" und "Gebt uns Lippi zurück" nageln Trainer Roberto Donadoni an die Wand wie Jesus ans Kreuz.

Pirlo übt Kritik am Trainer

"Ehrlich gesagt, habe ich auf die Lippi-Schlagzeilen nur gewartet", reagiert der Prügelknabe gelassen. Doch die Headlines produzieren mittlerweile sogar die Hauptakteure selbst.

"Die Wechsel hätten früher kommen müssen", zitierte die "Gazzetta dello Sport" Mittelfeldspieler Andrea Pirlo nach dem Desaster gegen die Elftal. Die gleiche Zeitung, die auch von einer regelrechten Spielerrevolte berichtete.

So sollen Spieler SMS an Daheimgebliebene (man munkelt, dass es sich um Filippo Inzaghi und Massimo Oddo gehandelt hat) geschickt und beklagt haben, dass die Aufstellung zu spät verraten wird und man ängstlich auf den Platz geht. Chaos in Blau! Gründe?

Toni und Zambrotta glätten die Wogen

"Grundsätzlich hat Donadoni als Trainer nicht so eine Ausstrahlung wie Lippi. Bei Lippi wäre öffentliche Kritik am Trainer nie laut geworden. Es ist erstaunlich, dass sich Pirlo äußert, weil das ein Spieler ist, der normalerweise nie den Mund aufmacht", sagt Jan Henkel, Premiere-Kommentator und Intimkenner des italienischen Fußballs, im Gespräch mit SPOX.com.

Um nicht noch für mehr Erstaunen zu sorgen, wurden mit Luca Toni und Gianluca Zambrotta gleich zwei Jungs vorgeschickt, die sich mit Aussagen wie "Wir werden auch für Roberto Donadoni siegen, der zu Unrecht massakriert wird" und "Wir stehen alle zu Donadoni" bemühen, dem Trubel um die Squadra Azzurra Einhalt zu gebieten.

Doch darüber, ob das "Massaker" am Trainer gerechtfertigt ist, lässt sich trefflich streiten. Es ist allerdings zu offensichtlich, dass der italienische Coach gegen Holland Fehler begangen hat.

"Dann ist er zum Abschuss freigegeben"

"Einen De Rossi, der beim AS Rom eine überragende Saison gespielt hat, nicht aufzustellen, kann keiner verstehen. Zudem hat Donadoni auf das Mailänder Mittelfeld mit Pirlo, Ambrosini und Gattuso gesetzt, wobei der AC alles andere als eine gute Saison gespielt hat. Diskussionswürdig ist auch die Aufstellung von Camoranesi. Da hätte er Perrotta spielen lassen müssen", meint Henkel.

Und: "Taktik ist ja in Italien Thema Nummer eins. Wenn der Nationaltrainer dann offensichtlich wichtige Positionen falsch besetzt, dann ist er zum Abschuss freigegeben."

Auch das Abwehrgebilde ohne den verletzten Weltfußballer Fabio Cannavaro zeigte sich alles andere als stabil. Marco Materazzi und Christian Panucci konnten der traditionell bombensicheren Defensive nie den nötigen Halt geben. Drei Tore in einem Spiel, eins mehr als Italien während der gesamten WM 2006 einstecken musste.

Revolution in blau

Allesamt Fehler, die nun einer großangelegten Korrektur bedürfen. Und der Trainer macht mit. In der Partie mit Endspielcharakter gegen Rumänien (Fr., 17.45 Uhr im SPOX-TICKER) krempelt Donadoni das halbe Team um, was für italienische Verhältnisse einer Revolution gleicht.

"Ich werde drei oder vier Wechsel vornehmen. Zwei davon betreffen Del Piero und Chiellini", ließ sich Donadoni bereits entlocken.

Wie die "Gazzetta dello Sport" erfahren haben will, soll ein 4-3-1-2-System die nötige Besserung herbeirufen. Dabei scheint es, dass Panucci neben dem plötzlich gesetzten Chiellini in der Innenverteidigung gegenüber Andrea Barzagli favorisiert wird.

Rom statt Mailand

Die linke Abwehrseite nimmt nach seinem ansprechenden Kurzeinsatz Fabio Grosso ein, Zambrotta rückt demnach nach rechts.

Revolution auch im Mittelfeld: Dort soll der angesprochene De Rossi als Staubsauger vor der Abwehr fungieren, Mauro Camoranesi rückt nach innen und gibt den Spielmacher. Flankiert wird er von Pirlo auf links und Perrotta auf rechts. Anders ausgedrückt: Rom ersetzt Milan, Gattuso bleibt als erstes prominentes Bauernopfer nur die Bank. Den Sturm bilden Bayern-Torjäger Toni und Del Piero.

Um den Super-GAU abzuwenden, verlangt Donadoni gegen die Rumänen "von jedem Spieler das Maximum. Wir brauchen Geduld und eine sehr hohe Laufbereitschaft. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, den Gegner zu kontrollieren."

Teamgeist auf dem Prüfstand

Der Weltmeister steht gehörig unter Druck und ist jetzt als Team gefordert.

"Ich glaube, dass so eine Situation für den Teamgeist gar nicht so schlecht ist. Das ist ja das Schöne bei den Italienern. Vor der WM 2006 hat keiner damit gerechnet, dass die mit ihren ganzen Skandalen und sonstigen Geschichten eine große Rolle spielen. Die haben sich da einfach zusammengerauft und dann kam der Teamgeist durch", sagt Henkel.

Was unterm Strich dabei herauskam, ist bekannt.

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