Eintrag ins Klassenbuch

Von Stefan Rommel
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© Getty

München - Auf Pressekonferenzen nehmen ja mitunter Personen am Rednerpult Platz, die da besser nicht sitzen sollten. Zu spröde sind deren Aussagen, zu belanglos ihr Wirken im täglichen Leben.

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In der Wirtschaft ist da so und im Sport bisweilen auch. Aber jemand muss den Job ja schließlich machen.

Umso erfreulicher war es, dass sich der Deutsche Fußball Bund dieses Mal nicht lumpen ließ.

Vor dem relativ unbedeutenden Länderspiel gegen Österreich (Mi., ab 20.30 Uhr im SPOX-LIVE-TICKER) wurde beim Stelldichein der Nationalmannschaft mit einer Schar von Journalisten in Wien schon einmal geprobt für die relativ bedeutende Europameisterschaft im Sommer. Mit Live-Übertragung und Blitzlichtgewitter und dem ganzen Pipapo.

"Plätschert alles so dahin"

Und so entsandte der DFB auch seine beiden wichtigsten Protagonisten, Joachim Löw und Michael Ballack. Nicht nur, dass es sich dabei um Bundestrainer und Kapitän handelte. Praktischerweise erteilten die beiden Lichtblicke in einer ansonsten sehr verunsicherten, sehr unhomogenen und offenbar sehr unkonzentrierten Truppe auch Auskunft.

"Das plätschert in letzter Zeit alles so dahin, das gefällt mir überhaupt nicht", hatte Manager Oliver Bierhoff einen Tag zuvor scharf vermeldet. "Wir müssen uns endlich mal wieder aufrappeln."

Gemeint hat er damit die allzu laxe Einstellung einiger der Auserwählten. Bundestrainer Löw hat ja einst ein sagenumwittertes Handbuch eingeführt. Eine Art Tagebuch, das den Entwicklungsverlauf jedes Einzelnen dokumentieren soll.

Die halbe Mannschaft stagniert

Stillschweigend geht es dabei natürlich um Leistungskurven, die auch nach oben zeigen. Ein hehres Ziel, das Löw ausgelobt hat. Für seine Spieler offenbar eine Nummer zu groß. Vier Monate vor dem ersten Anstoß in Basel sucht gut zwei Drittel der Belegschaft nach seiner Form.

In einigen Phasen der EM-Qualifikation mochte man eine Weiterentwicklung erkannt haben. Nach dem überzeugenden Auswärtssieg in Prag etwa. Betrachtet man jedoch das Leistungsvermögen im Februar 2008, muss man nüchtern feststellen, dass sich kaum ein Spieler an den Löw'schen Plan gehalten und sich selbst verbessert hat.

Die deutsche Mannschaft des WM-Halbfinals gegen Italien würde die heutige, selbe Mannschaft mit den selben Spielern vermutlich humorlos vom Platz fegen.

Spieler wie Philipp Lahm, Lukas Podolski, Bastian Schweinsteiger, Tim Borowski oder Arne Friedrich haben sich seitdem keinen Zentimeter weiterentwickelt. Die Jungen stagnieren. Und Stagnation bedeutet nicht nur im Fußballgeschäft Rückschritt.

Aus Sicherheit wurde Selbstzufriedenheit

Löw sieht jeden Spieler als eine Art Ich-AG, als eigene Firma. Firmen brauchen Reformen, um fit zu sein für die Zukunft. Eigenverantwortung war gefordert. Eine stattliche Zahl seiner kleinen Firmen hat geschludert, vielleicht auch im Gedanken an den vermeintlich sicheren Platz im EM-Kader.

"Der Stamm der Truppe steht", hatte Löw seine Gedanken im Herbst letzten Jahres in knackige Worte gefasst. "Die Spieler, die die Qualifikation und die WM 2006 gespielt haben, gehören dazu." Vielleicht hätte er doch lieber geschwiegen.

Was Sicherheit geben sollte, hat zu Selbstzufriedenheit geführt. Ein Eintrag ins Klassenbuch wäre angebracht. "Ich sehe das aber mit einer absoluten Ruhe. Wir sind mit der Entwicklung der Mannschaft nach der WM zufrieden", sagt Löw.

Sorgen in Mittelfeld und Abwehr

Trotz aller Dementi: Die größten Baustellen offenbaren sich ihm jetzt vor allem im Mittelfeld und im Abwehrverbund. Bernd Schneider war lange verletzt, Michael Ballack auch. Der Kapitän ist aber zumindest auf dem Weg zurück zu alter Form.

Schweinsteiger sucht nun schon seit Monaten nach dem Drive des WM-Sommers, Torsten Frings ist verletzt, Tim Borowski zum Test gegen den Nachbarn gar nicht erst eingeladen. Und die zweite Garde? Piotr Trochowski läuft immer wieder irgendwie mit, gleiches gilt bisher für Simon Rolfes.

Noch mehr Sorgen sollte aber die Abwehrreihe machen. Was ist aus der famosen Defensive geworden, die dem gegnerischen Angriffsspiel immer einen Schritt voraus schien und steil gespielte Bälle, flach gepasste Bälle, scharf gezirkelte Bälle einfach so verschwinden ließ wie das ominöse Bermudadreieck es mit Flugzeugen und Schiffen machen soll?

Drei Spieler, drei Probleme

Jens Lehmann durfte jüngst aufgrund der Verletzung seines Kontrahenten mal wieder einer geregelten Arbeit nachgehen. Beim FC Arsenal steht ansonsten ja lediglich Schichtarbeit auf dem Plan. Die Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit bleiben bestehen, bis zum Beginn des Turniers.

Per Mertesacker scheint ein bisschen auf der Suche nach sich selbst. Im Pokal in Dortmund und am Wochenende gegen Bochum offenbarte er Stellungsfehler wie nie, wirkte langsam und fahrig. Und er foult. Für einen, der normalerweise mit anderthalb Vergehen pro Saison auskommt, ist das geradezu eine Sinnkrise.

Und Christoph Metzelder? Zunächst dachten alle, in Madrid würde rotiert weshalb Metzte ab und an von draußen zuschaut. Was so auch stimmt. Allerdings ist Metzelder schon seit drei Monaten nicht mehr Teil dieser Defensivrotation mit Cannavaro, Pepe, Ramos oder Marcello.

Er ist der fünfte Mann. Er ist Madrids Christian Wörns. Und im Moment auch noch wegen einer Fußsohlenentzündung außer Gefecht.

Wenig Probleme im Sturm

Löw ist jetzt mehr denn je gefordert. Ihm bleiben kaum Zeit und kaum Testmöglichkeiten. Aber immerhin hat er im Sturm kaum Probleme. Und immerhin hat er seine Leitfigur wieder zurück.

"Wir hoffen, dass wir auf einen starken Gegner treffen. Jedes Spiel ist wichtig, wir wollen jetzt viel Selbstvertrauen sammeln", sagte Kapitän Ballack in Wien brav seine Worthülsen auf. Auch hier besteht noch einiges Potenzial nach oben.

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