"Kein Zeichen von Schwäche"

Von Interview: Oliver Wittenburg
Ralf Rangnick coachte Schalke 2004/2005 und von März bis September 2011
© Getty

Ralf Rangnicks Rücktritt als Trainer des FC Schalke 04 kam aus heiterem Himmel und wurde mit Bestürzung und Besorgnis aufgenommen. Der renommierte Mentalcoach Peter Boltersdorf wurde einst auf Empfehlung Jürgen Klopps von Rangnick nach Gelsenkirchen geholt. Im Interview mit SPOX spricht Boltersdorf über seine Erfahrungen mit Rangnick, Ursachen mentaler Erschöpfung und mögliche Gegenmaßnahmen.

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SPOX: Herr Boltersdorf, der Rücktritt von Ralf Rangnick kam für die breite Öffentlichkeit aus dem Nichts. Der FC Schalke hat umgehend die Gründe klipp und klar kommuniziert. Die richtige Vorgehensweise aus Ihrer Sicht?

Peter Boltersdorf: Grundsätzlich müsste man empfehlen, überhaupt nicht in die Öffentlichkeit zu gehen. Die Problematik ist aber, dass eine Person des öffentlichen Lebens das gar nicht regeln kann. Für so jemanden ist es dann natürlich besser, aktiv zu kommunizieren, um nicht irgendwelche anderen Gerüchte aufkommen zu lassen. Es ist aber sicherlich nicht die beste aller Lösungen.

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SPOX: Einer Privatperson würden Sie also empfehlen, damit im engsten Kreis der Vertrauten zu bleiben.

Boltersdorf: Ja. Auf jeden Fall. Das hängt einfach damit zusammen, woraus diese Krankheit entsteht. Wenn man das überhaupt Krankheit nennen darf. Man muss schon aufpassen. Bei Erkrankungen, die den mentalen Bereich betreffen, ist man schnell bei der Hand, mehr darin zu sehen oder etwas anderes hinein zu interpretieren als beispielsweise bei einer Grippe. Aber im Grunde ist es sinnlos, beides zu unterscheiden, denn beides setzt mich außer Gefecht und das ist hier der Punkt.

SPOX: Was passiert bei einer mentalen Erschöpfung?

Boltersdorf: Ich bin außerhalb der Leistung und muss sehen, dass ich in einen Zustand komme, der mir wieder Leistung ermöglicht und mir wieder Lust und Spaß am Leben bringt. Denn nur auf der Basis von Lust und Spaß ist Leistung ja überhaupt möglich. Und egal, ob man das nun als vegetatives Erschöpfungssyndrom, als Burnout oder Depression bezeichnet - das sind nur unterschiedliche Ausprägungen oder Qualitäten einer Situation, der zugrunde liegt, dass ein Mensch zu wenig innere Belohnung erfährt bei dem, was er tut. Er kommt nicht in die Situationen, die ihn als Menschen ausmachen und in der Persönlichkeit bestätigen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist eine Wahrnehmung, die uns sagt: Ich kann meine innere Belohnung und Zufriedenheit in absehbarer Zeit nicht mehr erreichen. Und gerade bei sehr leistungsorientierten Menschen und dazu können wir Ralf Rangnick guten Gewissens zählen, führt das dazu, dass sie ihre Anstrengungen eher noch erhöhen und sich dadurch erst recht auspowern.

SPOX: ...und damit in einen gefährlichen Kreislauf geraten.

Boltersdorf: Das Phänomen der mentalen Energie ist im Grund relativ lange bekannt, aber medizinisch noch nicht ausreichend erforscht. Aber wenn man die Ergebnisse der aktuellen Hirnforschung betrachtet, die Mechanismen der inneren Belohnung durch körpereigene Drogen beschreiben, dann ist es ganz eindeutig, dass eine mentale Erschöpfung eintritt, wenn man diese Belohnung nicht mehr erfährt. Es ist schwer nachvollziehbar von außen, dass das einem Menschen passiert, der einen Beruf ausübt, der ihm enormes Einkommen und große Reputation einbringt. Aber auch ein Ralf Rangnick muss eine innere Belohnung haben, um seine Leistung hochhalten zu können.

SPOX: Was könnte das bei Rangnick sein?

Boltersdorf: Die Wahrnehmung etwa, dass er etwas bewirken kann, dass er Einfluss hat. Ich glaube, das ist für viele Trainer sehr wichtig.

SPOX: Kann man denn überhaupt sicher sein, dass die Ursachen für Rangnicks Erkrankung in seinem Beruf zu finden sind?

Boltersdorf: Das kann man nicht. Das kann genauso gut private Ursachen haben. Unsere Psyche macht da ja keine Unterschiede. Wenn jemand soviel arbeitet und soviel unterwegs ist, liegt der Schluss nahe, dass es etwas mit dem Beruf zu tun hat, aber mit Gewissheit sagen kann man das nicht.

SPOX: Sie kennen Ralf Rangnick gut und haben ihn auch mittels des Reiss Profile analysiert. Darüber dürfen Sie freilich nicht sprechen. Aber wie finden Sie ihn denn als Menschen?

Boltersdorf: Es gibt ja nicht wenige, die Rangnick als Workaholic bezeichnen und als Perfektionisten, was den Fußball betrifft. Das kann ich aus meiner Sicht absolut bestätigen. Mit dem Begriff Workaholic muss man übrigens aufpassen: Für mich ist dieser Begriff hier nur positiv besetzt. Für Menschen, die gerne sehr viel leisten, ist die Arbeit keine Belastung. Viel Arbeit und sich um viele Dinge kümmern ist mit Sicherheit kein Grund dafür, dass Ralf Rangnick in den Burnout geht. Ganz sicher nicht.

SPOX: Warum dann?

Boltersdorf: Eine Möglichkeit ist, dass die Arbeit nicht genug Wirkung hat. Das wäre eine denkbare Ursache. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Weg dahin schon in Hoffenheim angefangen hat. Als er dort begann, war er gleichzeitig in drei oder vier Ämtern tätig und konnte alles machen und beeinflussen. Mit großem Erfolg.

SPOX: Welche Rolle spielte dann der Gustavo-Transfer in der Winterpause zum FC Bayern?

Boltersdorf: Gut denkbar, dass das ein sehr großes Frusterlebnis war, durchaus. Wenn er tatsächlich dagegen war und das für eine falsche Entscheidung hielt, sich aber nicht durchsetzen konnte, dann war das sicher ein Frusterlebnis, das über das Alltägliche hinausgeht.

SPOX: Hat Rangnick ein Problem mit Teamarbeit?

Boltersdorf: Ich könnte nicht sagen, dass er kein Teamplayer ist. Außerdem ist es durchaus denkbar, dass jemand, der autonom und autokratisch handeln will, alles unter Kontrolle haben will, dennoch sehr teamorientiert handelt. Das ist gut vereinbar.

SPOX: Was sollte jemand tun, der an mentaler Erschöpfung leidet? Was empfehlen Sie?

Boltersdorf: Ich bin kein Therapeut, aber gemeinhin sollte man sich in eine völlig andere Umgebung begeben und dann ganz bewusst die Dinge leben, die einem gefehlt haben. Es ist auch wichtig, ganz offen mit Menschen über den Frust sprechen zu können und jemanden zu haben, der einem Möglichkeiten aufzeigt, wie man sein Leben wieder lebenswert gestalten und empfinden kann.

SPOX: Zuletzt hat sich Hannovers Torhüter Markus Miller wegen Erschöpfung zurückgezogen, jetzt Rangnick. Sind mentale Erkrankungen ein Phänomen unserer Zeit bzw. treten sie heute häufiger auf?

Boltersdorf: Es gibt heute nicht mehr psychische Erkrankungen als früher, sie werden nur öffentlicher gemacht. Und es gibt auch eine gewisse Akzeptanz. Die Leute lernen immer mehr, dass eine mentale Erkrankung im Grunde auch nichts anderes ist als eine Grippe und nicht etwa ein Zeichen von Schwäche.

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