"Ribery muss man anders behandeln"

Urs Meier hat Michael Ballack bei der WM 2002 im Halbfinale die Gelbe Karte gezeigt
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SPOX: Gegenüber dem Focus haben Sie sich ähnlich geäußert und gesagt, dass Fußball "zur unsportlichsten Sportart verkommen" ist. Können Sie uns das erläutern?

Meier: Im Fußball wird ständig zur Unfairness aufgerufen. Das geht im Jugendbereich mit den Eltern los und zieht sich durch bis zu den Trainern im Profibereich. Das passiert in anderen Sportarten nicht - im Gegenteil: Wenn sich beim Rugby jemand fallen lässt, stellt ihn der Trainer nicht mehr auf. Beim Fußball erhält der Spieler Kritik, wenn er fair spielt, anstatt sich fallen zu lassen.

SPOX: Ein Spieler, der mit grenzwertigen Aktionen polarisiert, ist Franck Ribery. Wie geht man mit so einem Spieler um?

Meier: Die Hauptaufgabe des Schiedsrichters ist nicht nur der Schutz des Spielers vor dem Gegner, sondern auch vor sich selbst. Deshalb muss man einen Ribery anders behandeln. Es ist bekannt, dass er sich provozieren lässt. Da darf man nicht lange mit einem Foulpfiff warten, sonst bekommt Ribery selbst Probleme. Im Zweifel pfeift man mal einen Vorteil für Bayern ab, damit müssen Spieler und Verein leben. Sonst wartet man bis zur Tätlichkeit und muss Ribery für seine Befreiungsschläge vom Platz stellen. Fußball ist für den Schiedsrichter wie Poker: Man muss zwischen Risiko und Ertrag abwägen.

SPOX: Abwägen muss man auch bei K.o.-Spielen, wenn Spieler vorbelastet sind. Haben Sie sich im Vorfeld immer informiert, welcher Akteur bei der nächsten Gelben Karte gesperrt ist?

Meier: Ja, und bei solchen Spielen liegt die Messlatte für eine Gelbe Karte höher. Wenn sie aber überschritten wird, sind dem Schiedsrichter die Hände gebunden.

SPOX: Sie haben das bei der WM 2002 erlebt, als Sie Michael Ballack im Halbfinale verwarnen mussten ...

Meier: Wegen mir haben auch andere Stars ein Finale verpasst, der Name darf kein Kriterium sein. Viele Schiedsrichter begreifen nicht, dass man dadurch an Profil gewinnt. 2000 habe ich Zidane runter gestellt und ein paar Spiele danach ist er zu mir in die Kabine gekommen, hat mir sein Trikot geschenkt und mir gesagt, dass ich der beste Schiedsrichter der Welt sei. Die Spieler wollen keine Schiedsrichter, die sich immer winden.

SPOX: Gibt es aber auch Spieler, die Machtspiele mit dem Schiedsrichter eingehen?

Meier: Bei einem Europapokal-Spiel kam der Zagreb-Kapitän in der Halbzeit auf mich zu und meinte: "Wenn wir das Spiel verlieren, kommen Sie hier nicht mehr lebend raus." Ich habe ihm geantwortet, dass er mir dabei helfen muss, dass alles in geregelten Bahnen abläuft: "Ist mir scheißegal! Ich schmeiß' dich vom Platz", habe ich gesagt. Damit habe ich den Spieß umgedreht und es ging alles problemlos über die Bühne.

SPOX: Nicht nur die Spieler, auch die Verantwortlichen haben immer eine Meinung zum Schiedsrichter. Wie ist da der Umgang?

Meier: Nach den Spielen gehen die Schiedsrichter häufig mit den Beobachtern und Betreuern noch essen. Entscheidend ist, wie man sich in dieser Situation nach einem guten Spiel verhält. In der Euphorie darf man nicht überschwänglich werden oder sogar noch in eine Bar gehen. Sonst holt einen das beim nächsten schlechten Spiel ein.

SPOX: Sie waren bekannt dafür, dass Sie für Ihre Fehler im Nachhinein gerade standen. Wie kam das an?

Meier: Wenn man im Fernsehen sieht, dass man eine Fehlentscheidung getroffen hat, muss man das öffentlich zugeben. Merken die Leute, dass man sich ehrlich entschuldigt, kommt das bei allen Parteien gut an. Grundsätzlich müssen Schiedsrichter Mut haben, Unsicherheiten auf dem Platz zuzugeben.

SPOX: Macht man sich damit nicht angreifbar?

Meier: Es ist eine Utopie, dass man beispielsweise jeden Pressschlag richtig beurteilen kann. Dann lieber die Unsicherheit zugeben, das verstehen die Spieler auch und die Schiedsrichter, die das machen, genießen ein viel besseres Standing. Leider ziehen sich viele Schiedsrichter in einen Käfig zurück, weil sie falsche Angst vor dieser Konfrontation haben. Wenn ich wie die Maus vor der Schlange stehe, brauche ich mich nicht wundern, wenn ich keine Anerkennung bekomme.

SPOX: Kann diese Unsicherheit zu Entscheidungen führen, die von vorangegangenen Fehlern geleitet sind?

Meier: Kompensationsentscheidungen sind fatal und deshalb würde ich in der Halbzeit nie die Highlights anschauen. Eins plus eins ergibt nicht null, sondern zwei. Der zweite Fehler ist oft schlimmer als der erste, weil man das Spiel bewusst beeinflusst. Du musst dich von großen Namen verabschieden und darfst dich nicht von der Stimmung lenken lassen. Ich habe viele Entscheidungen gehabt, bei denen ich gegen 80.000 gepfiffen habe und das zu Recht.

SPOX: Das zieht manchmal aber Konsequenzen nach sich: Sie standen 2004, nachdem Sie ein Tor von England annullierten, für einige Wochen unter Polizeischutz.

Meier: Das Spiel ging 2:2 aus und die Engländer sind im Elfmeterschießen ausgeschieden. Die englische Presse hat mich als Sündenbock dargestellt und ich war vier Tage auf der Titelseite der Sun. Da es sogar Morddrohungen gab, bin ich untergetaucht und stand unter Polizeischutz. Das Schlimmste war aber, dass die Entscheidung richtig war und die UEFA total versagt hat. Sie haben die Situation nicht kommentiert und mich so im Stich gelassen. Auch in diesen Positionen braucht es eben Persönlichkeiten.

SPOX: Überlegt man sich da nicht, die Pfeife zur Seite zu legen?

Meier: Ganz im Gegenteil. Das war eher eine Motivation, weiterzumachen. Wenn man bei jedem Druck und Gegenwind zusammenfällt, ist man als Schiedsrichter fehl am Platz.

SPOX: War dieser Druck ein Grund dafür, dass Sie Schiedsrichter wurden?

Meier: Mein großes Ziel war immer, vor 80.000 Zuschauern aufzulaufen. Als ich gemerkt habe, dass das als Spieler auf keinen Fall passieren wird, wurde ich Schiedsrichter. Trotzdem war ich immer Fußballer und 100 Prozent im Spiel drin. Ein Schiedsrichter muss wissen, was weh tut - und das nicht nur körperlich. Wenn man das spürt, schätzt man die Situationen besser ein.

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