"Gebrochene Knochen gehören dazu"

Von Interview: Andreas Inama
Beim Calcio Storico Fiorentino gibt es in Sachen Körpereinsatz keine Regeln
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SPOX: Knochenbrüche und Bewusstseinsverlust. Das klingt nach einem echten Männersport. Gibt es auch einen Calcio Storico für Frauen oder haben Frauen schon an der Veranstaltung teilgenommen?

Giovannelli: 1530 - das Jahr, an das die Veranstaltung erinnern soll - haben nur Männer teilgenommen. Daher verlangt es die Tradition, dass nur Männer auf dem Platz stehen. Außerdem wird das Spiel sehr hart geführt und Frauen könnten sich dabei nur schwer durchsetzen. Deswegen nehmen auch keine am Spiel teil.

SPOX: Sie sprechen das Jahr 1530 an. Das Spiel wurde eingeführt, als Florenz belagert wurde. Wie kam man dazu, eine solche Veranstaltung in so prekärer Lage ins Leben zu rufen?

Giovannelli: Eigentlich gab es den Calcio Fiorentino schon länger, es wurden schon vor diesem berühmten 17. Februar 1530 Spiele organisiert. Jener Tag dient nur als Vorlage für den heutigen Event. Im Jahr 1490 war zum Beispiel der Arno (Fluss durch Florenz, Anm. d. Red.) zugefroren und so organisierte man Partien auf dem Eis. Es wurde auch zu besonderen Anlässen gespielt, wenn Botschafter von anderen Städten nach Florenz reisten oder während des Karnevals.

SPOX: Was hat es dann mit der Partie aus dem Jahr 1530 auf sich?

Giovannelli: Wie schon erwähnt wurde Florenz belagert. Kaiser Karl V. hatte 1529 im Auftrag von Papst Clemens VII. die Stadt belagert, um seinen Verwandten, der Familie De Medici, die Macht über Florenz zurückzugeben. Florenz hatte diese vertrieben und war mittlerweile eine Republik. Aus Trotz organisierte man im Februar in der Stadt dieses Spiel, um den Belagerern zu zeigen, dass sie den Einwohnern von Florenz gleichgültig sind. Aber der Stadt ging es zu diesem Zeitpunkt schon schlecht, die Menschen litten Hunger und im Laufe des Sommers wurde Florenz erobert. Die De Medici wurden wieder als Machthaber installiert.

SPOX: War es ein Spiel des Adels oder spielte auch das "gewöhnliche" Volk?

Giovannelli: Durchaus spielte der Adel, aber auch Männer anderer sozialer Schichten organisierten Spiele. Es war ein Spiel des Volkes, das zu besonderen Anlässen organisiert wurde.

SPOX: Also kam es auch vor, dass Adelige gegen Menschen spielten, mit denen sie sonst ob der sozialen Unterschiede nie in Kontakt kamen?

Giovannelli: Absolut. Da kam auch die Eigendynamik des Sports am besten zum Ausdruck: Ein Herr konnte nicht einfach den Ball von seinen Untergebenen verlangen und musste das ein oder andere Mal einiges einstecken. Außerdem war es besonders zur Zeit der Republik zwischen 1527 und 1530 so, dass die Adeligen sich nicht in so extremem Maße vom städtischen Leben abgesondert hatten. Sie nahmen nur eine andere Rolle als der Rest ein. Auf dem Feld gab es dann gar keine Unterschiede mehr. Der Adel hatte keine Privilegien auf dem Platz.

SPOX: Im 18. Jahrhundert fand dann das letzte offizielle Spiel statt, anschließend wurde das Spiel für fast 200 Jahre nicht mehr gespielt. Wieso?

Giovannelli: Die letzte traditionelle Partie fand 1749 in Livorno statt. Die Familie De Medici starb aus und die Macht über Florenz ging an Franz Stefan I. von Lothringen, den Ehemann von Maria Theresia. Die Tradition verflüchtigte sich, man spielte nicht mehr. Es gab dann einzelne Events, wie 1898 oder 1902. Endgültig wieder aufgenommen wurde die Tradition im Jahr 1930. Damals gab es in der Toskana eine Bewegung, die alte Traditionen wieder aufleben ließ, wahrscheinlich auch unter dem direkten Einfluss des Faschismus.

SPOX: Welchen Wert hat diese Tradition für die Stadt heute? Konzentriert sich das Interesse nur auf Florenz oder ist es ein über die Grenzen der Stadt beliebtes Event?

Giovannelli: Eigentlich konzentriert sich das Ganze nur auf Florenz. Diese Tradition ist tief in der florentinischen Gesellschaft verwurzelt und die Menschen aus den vier Vierteln hängen sehr an ihren Mannschaften. Die Teilnehmer, ob Spieler, Musiker oder das Rundherum, arbeiten das ganze Jahr auf dieses Spektakel hin. Die Familien der Teilnehmer binden sich mit ein und die Einwohner der Viertel feiern ein richtiges Fest. International sind eigentlich nur unsere Choreografien bekannt. Fast 530 Personen nehmen ausschließlich an der Parade teil, die an Militärparaden aus dem 16. Jahrhundert erinnern soll. Mit diesen Paraden haben wir schon die ganze Welt bereist, wir waren auf jedem Kontinent. Das Spiel selbst ist nur selten außerhalb der Grenzen von Florenz ausgetragen worden.

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