"Gebrochene Knochen gehören dazu"

Von Interview: Andreas Inama
Beim Calcio Storico Fiorentino gibt es in Sachen Körpereinsatz keine Regeln
© getty

Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in der Hand des Calcio Storico. Das Spiel, das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist tief in der florentinischen Folklore verwurzelt. Gewissermaßen als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Der Historiker und Autor kennt sich wie kaum ein Anderer mit der Geschichte der toskanischen Metropole aus. Im Interview mit SPOX spricht Giovannelli über den kulturellen Ursprung, die Entwicklung, Gefahren und Risiken des Calcio Storico.

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SPOX: Herr Giovannelli, Sie gelten als der Experte schlechthin für den Calcio Storico Fiorentino. Wie sind Sie zu diesem Sport gekommen?

Filippo Giovannelli: Ich lebe in dieser Stadt und bin schon seit jeher ein Liebhaber der florentinischen Folklore. Besonders der Calcio Fiorentino hat es mir angetan, aber weniger der sportliche Aspekt, sondern das Historische dahinter. Überhaupt kann man nicht von einem Sport sprechen. Es ist eine Volkstradition.

SPOX: Beschreiben Sie uns bitte das Spiel.

Giovannelli: Es wird auf einem Sandplatz gespielt. Heute ist das Feld exakt 70 Meter lang und 35 Meter breit. Es treten zwei Mannschaften gegeneinander an, die jeweils aus 27 "Calcianti" bestehen. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball an das andere Ende des Feldes zu befördern und dort im Tor unterzubringen. Diese Regeln wurden von Giovanni de' Bardi im Jahr 1580 festgelegt.

SPOX: Hat sich das Spiel seitdem geändert oder hat es seine ursprüngliche Form beibehalten?

Giovannelli: Das Spiel selbst hat sehr wenige Regeln und das ist auch so geblieben. Der Ball muss einfach auf die andere Seite. Dabei sind alle Mittel erlaubt. Es wird gerungen, geboxt, gestoßen - alles, nur um den Gegner aufzuhalten. Es gibt zwar Schiedsrichter und die Mannschaftskapitäne, die für Ordnung sorgen, jedoch kommen die fast nur zum Einsatz, wenn es zu Raufereien kommt, die über das Sportliche hinausgehen.

SPOX: Und das ist seit fast einem halben Jahrtausend so?

Giovannelli: Geändert hat sich nur die Organisation. Heute findet jedes Jahr ein Turnier statt, an dem Mannschaften aus den vier historischen Vierteln von Florenz teilnehmen. Es werden zwei Halbfinals und schließlich ein Finale ausgetragen. Der Sieger erhält als Preis ein Chianina-Kalb. Früher hat sich die Mannschaft das Kalb untereinander aufgeteilt, heute hat es nur noch symbolischen Wert. In Anlehnung an den 17. Februar 1530 wird heute in der Kleidung aus dem 16. Jahrhundert gespielt.

SPOX: Gibt es unterschiedliche Taktiken und Strategien, die die Mannschaften anwenden oder wird einfach drauf los gerannt?

Giovannelli: Jede Mannschaft hat einen oder zwei Trainer, die sehr erfahren im Bereich des Calcio Storico sind. Seit 1930 hat man sich durchaus Taktiken zurechtgelegt. Außerdem gibt es auch Positionen wie beim Fußball: Es gibt die "Datori Indietro", die man mit Torhütern vergleichen kann, die "Sconciatori", so eine Art Mittelfeldspieler, und die "Datori Innanzi", die Angreifer.

SPOX: Sind die Mannschaften wie Vereine organisiert oder werden da jedes Jahr neue Teams zusammengewürfelt?

Giovannelli: Die Mannschaften repräsentieren die vier historischen Viertel von Florenz: Die Blauen kommen aus dem Viertel Santa Croce, die Weißen aus Santo Spirito, die Grünen aus San Giovanni und die Roten aus Santa Maria Novella. Die Mannschaften sind wie sportliche Vereinigungen organisiert. Es wird das ganze Jahr trainiert und schließlich werden die Spieler ausgewählt, die die Spiele austragen. Es gibt eigene Trainingszentren und -plätze, auf denen der Wettkampf vorbereitet wird.

SPOX: Die Einwohner der Viertel nehmen leidenschaftlich teil. Gibt es Fangruppierungen wie etwa im Fußball?

Giovannelli: Natürlich, viele Menschen kommen jedes Jahr zur Piazza Santa Croce, um die Calcianti anzufeuern. Es ist zwar zum Teil auch eine Touristenattraktion, aber das Gros der Fans sind Florentiner, Menschen aus den Vierteln und Familienmitglieder, die ihre Mannschaft anfeuern.

SPOX: In Spanien gibt es die Stierkämpfe, die ob ihrer Zurschaustellung von Gewalt besonders in der Kritik stehen. Nun ist Gewalt auch im Calcio Storico ein Charakteristikum. Gibt es Gegner, die das Spiel verbieten lassen möchten?

Giovannelli: Es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen Volkstraditionen und Festen, bei denen Tiere beteiligt sind und zu Schaden kommen, und einem Sport wie diesen. Es sind Menschen, die daran teilnehmen - Männer, die wissen, welcher Gefahr sie sich aussetzen. Sie sind sich der Risiken bewusst und niemand zwingt sie mitzumachen. Tiere können sich das nicht aussuchen. Außerdem ist diese Tradition so fest verwurzelt und alt, dass es noch nie Kritik gab. Es gibt durchaus häufig schlimmere Verletzungen, aber die Teilnehmer kennen die potentiellen Konsequenzen schon vorher.

SPOX: Gibt es eine medizinische Notfallversorgung?

Giovannelli: Am Spielfeldrand stehen Ärzte und Sanitäter, die auf das Spielfeld kommen, falls es zu Zwischenfällen kommt. Tödliche Verletzungen gab es noch nie, wir sprechen hier höchstens von Bewusstseinsverlust oder Knochenbrüchen. Aber auch das passiert eher selten. Auch in einem normalen Fußballspiel kann es zu Unfällen mit Verletzungsfolge kommen.

Seite 1: Das Spiel, die Fans, die Gefahr

Seite 2: Die Rolle der Frau, der Ursprung und die Historie