Wird die gestiegene Erwartungshaltung zum Problem für das DHB-Team? Wer ist der Schlüsselspieler? Führt der Weg zum Titel nur über Frankreich? Und wie schwer wiegt der Abschied von Bundestrainer Dagur Sigurdsson? Vor dem WM-Auftakt gegen Ungarn (17.45 Uhr im LIVETICKER) diskutiert SPOX-Redakteur Felix Götz mit Weltmeister Henning Fritz, Handball-Kommentator Markus Götz und Sascha Staat, dem Macher des Handball-Podcast Kreis Ab.
Gestiegene Erwartungshaltung wird zum DHB-Problem
Henning Fritz: In dieser Mannschaft steckt meiner Meinung nach eine Mentalität und Moral, die es nicht zulässt, dass die Erwartungshaltung zum Problem wird. Das Team wurde gerade bei der EM vor unterschiedlichste Aufgaben gestellt. Mal waren sie in der Favoritenrolle, mal der Underdog, es gab Verletzungsprobleme, neue Spieler kamen hinzu. Das haben sie alles gelöst bekommen, sie hatten immer eine Antwort. Auch bei Olympia hat sich die Mannschaft wacker geschlagen. In Rio gab es lediglich das Problem, dass sie aus meiner Sicht im Halbfinale in der ersten Halbzeit zu viel Respekt vor den Franzosen hatten. Danach wurde dieser Respekt abgelegt, es ist ein Lernprozess. Die Spieler haben gesehen: Wir können mit den Franzosen gut mithalten. Aus allen diesen Erfahrungen, die sie gesammelt haben, gehen sie gestärkt hervor. Ich schätze diese Mannschaft so ein, dass sie daraus Selbstbewusstsein schöpft.
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Markus Götz: Jetzt, da wichtige Ausfälle wie die von Weinhold und Wiede zu beklagen sind, wo wochenlang nur über TV-Rechte gesprochen wurde, habe ich das Gefühl, dass die Erwartungshaltung gar nicht so riesig ist. Das kann sich im Verlaufe des Turniers natürlich wieder ändern. Da die Mannschaft bei den vergangenen beiden Turnieren Platz eins und drei belegt hat, würde natürlich ein Gefühl der Unzufriedenheit aufkommen, falls man es nicht wieder bis ins Halbfinale schaffen sollte. Da steigt die Erwartungshaltung automatisch, damit muss die Mannschaft klar kommen. Am Ende des Tages wird es aber auch ganz eng damit zusammenhängen, wie die Mannschaft grundsätzlich auftritt. Wenn wieder ein Spirit entwickelt und im Viertelfinale dramatisch gegen einen Top-Gegner verloren wird, würde man das anders bewerten, als wenn man sich nur durch das Turnier mogeln und rausfliegen würde.
Sascha Staat: Ich sehe in der Erwartungshaltung kein Problem. Schon vor den Olympischen Spielen in Rio ist die Erwartungshaltung deutlich angestiegen und das Team kam mit der neuen Rolle sehr gut zurecht. Die Mannschaft wirkte bei den letzten öffentlichen Medienterminen sehr locker und entspannt. Ich habe den Eindruck, dass man durch die erzielten Erfolge ausreichend Selbstvertrauen besitzt, um mit der Bürde der Favoritenrolle umzugehen. Bis auf die Zeit unter Martin Heuberger als Trainer war das eigentlich auch immer so. Die Tiefe im Kader ist - trotz erneut vieler Verletzter und Absagen - nach wie vor bemerkenswert. Entscheidend wird sein, wie man ins Viertelfinale kommt. Wie immer bei Weltmeisterschaften ist das die Schlüsselpartie.
Felix Götz: Die Erwartungshaltung wird sich meiner Meinung nach während des Turniers nicht negativ auf die Mannschaft auswirken. Dagur Sigurdsson hat seinen Spielern längst beigebracht, Druck in positive Energie umzuwandeln. Außerdem ist die Truppe zwar jung, verfügt aber trotzdem über Spieler mit beträchtlicher Erfahrung auf allerhöchstem Niveau. Vielmehr könnte die Erwartungshaltung bei der Nachbetrachtung, also der Einordnung des Turniers aus deutscher Sicht, eine Rolle spielen. Gefühlt ist es doch so, da stimme ich Markus zu, dass es nach den Auftritten bei der EM in Polen und bei Olympia in der öffentlichen Wahrnehmung in die Richtung geht: Das Halbfinale darf es dann bitte schon sein. Ist schon vorher Endstation, dürfte es schwierig werden, die WM als Erfolg zu verkaufen.
Die Schlüsselspieler des DHB-Teams sind ...
Sascha Staat: Für mich ist das eindeutig Kai Häfner. Denn hinter ihm klafft leistungstechnisch ein Loch. Häfner ist das, was man im Basketball einen "streaky shooter" nennt. Seine Form in der Bundesliga ist vielversprechend, aber mittlerweile weiß die internationale Konkurrenz natürlich um seine Stärken und gleichzeitig auch um seine Schwächen. Schafft er es in den wichtigen Spielen, sein Potenzial auszuschöpfen, dann hat Deutschland sehr gute Karten. Ich gehe aber aktuell davon aus, dass Holger Glandorf gegen Ende der Gruppenphase beziehungsweise vor dem Achtelfinale den Kader verstärken wird. Dann sollte sich dieses Problem von selbst erledigt haben.
Der letzte Auftrag für "Les Experts"
Felix Götz: Es gibt im Handball ja diese eine unverrückbare Wahrheit: Hast du keinen Torhüter in Topform, kannst du einpacken. Mit Andreas Wolff und Silvio Heinevetter ist das DHB-Team zwischen den Pfosten hervorragend aufgestellt. Schaffen es beide, in absoluter Topform aufzutreten, wäre das also schon einmal ein echtes Pfund. Ansonsten will ich gar nicht so sehr nach einem Schlüsselspieler suchen. Die vergangenen Turniere haben gezeigt, dass das DHB-Team dann stark ist, wenn es gelingt, einen echten Teamspirit zu entwickeln. Der Bundestrainer ist hier gefordert - und ich habe keinen Zweifel, dass es ihm auch dieses Mal gelingen wird, eine gute Chemie herzustellen. Ich werfe jetzt gleich meinen gesamten Geldbeutel ins Phrasenschwein, aber es ist nun mal so: Der Star muss die Mannschaft sein!
Henning Fritz: Das sehe ich ähnlich, Felix. Eines der Geheimnisse des Erfolges dieser Mannschaft ist, dass es eben nicht diesen einen Schlüsselspieler gibt. Gerade im Angriff agiert die deutsche Mannschaft dadurch sehr flexibel. Bei der EM hat sich gezeigt, dass sich die Gegner nicht auf den einen Spieler konzentrieren können. Jeder Rückraumspieler, der auf dem Feld stand, hat Torgefahr ausgestrahlt. Das zeichnet diese Mannschaft aus.
Markus Götz: Auch wenn es furchtbar langweilig ist: Die Schlüsselspieler sind für mich ganz klar Wolff und Heinevetter. Natürlich kann kein Torhüter der Welt alleine etwas reißen, dennoch sind starke Torhüterleistungen die Basis für alles. Da bin ich sehr, sehr zuversichtlich. Wolff katapultiert sich bei großen Turnieren ohnehin immer in eine ganz eigene Verfassung. Und Heinevetter hat seine Leistung in letzter Zeit sehr stark stabilisiert.
Der Titel führt nur über Frankreich
Markus Götz: Das muss man so sagen, ja. Wir haben es häufig erlebt, was der Heimvorteil bei so einem Turnier bedeutet. Frankreich ist nach wie vor mit unglaublichem Talent gesegnet. Es kommen auch richtig gute Spieler nach, für mich ist Frankreich der Topfavorit. Trotzdem gibt es ein paar Parameter, die für gewisse Zweifel sorgen. Man muss erst einmal abwarten, wie es mit dem neuen Trainergespann Dinart und Gille funktioniert. Auch die Erwartungshaltung spielt eine Rolle. Der Druck, im eigenen Land liefern zu müssen, ist enorm. Das kann auch mal nach hinten losgehen.
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Sascha Staat: Auch ich gehe schwer davon aus, dass diese These zutrifft. Allerdings sehe ich die Franzosen nicht als den großen, eindeutigen Topfavoriten an, wie das viele andere tun. Claude Onesta hat seinen Platz als Trainer, der mehr ein stiller Begleiter war, geräumt, aber der ehemalige Co-Trainer Dinart und sein neuer Partner Gille standen noch nie komplett in der Verantwortung. Der Druck als Gastgeber ist - wie Markus richtigerweise sagt - entsprechend groß. Hinter den Schlüsselspielern liegt eine enorm lange Zeit mit höchsten Belastungen. Egal ob Thierry Omeyer, Nikola Karabatic oder Daniel Narcisse, sie alle waren bei der EM in Polen mit dabei, schafften es dann bis in das Final Four der Champions League, um schließlich in Rio das Endspiel zu erreichen. Körperlich sind die Grenzen der "Les Experts" definitiv erreicht. Ihre sportliche Klasse könnte dies ein letztes Mal aber wettmachen.
Felix Götz: Wer will dir schon Recht geben, Sascha? Eben: niemand! Aber in diesem Fall komme ich zumindest teilweise nicht drum herum. So klar wie die Buchmacher sehe ich die Franzosen aufgrund der von dir genannten Argumente ebenfalls nicht in der Favoritenrolle. Dänemark, Spanien und Deutschland sind auf jeden Fall auch in der Lage, das Ding zu gewinnen. Selbst die Kroaten würde ich nicht so ganz vom Zettel streichen. Einen wichtigen, von Markus bereits angesprochenen Punkt, sollte man dabei allerdings nicht vergessen: Bei vier der letzten fünf Weltmeisterschaften stand der Gastgeber immer mindestens im Endspiel. Und ich will es mal ganz vorsichtig ausdrücken: Die Schiedsrichter waren dabei selten keine große Hilfe. Das war 2015 in Katar so, das war aber auch 2007 in Deutschland nicht anders.
Henning Fritz: Ich stricke den Favoritenkreis eng und sehe zwei Mannschaften, denen alles zuzutrauen ist. Das ist natürlich Frankreich, das mit seiner alten Generation im eigenen Land den Titel nochmal unbedingt holen möchte - und Deutschland. Ich komme noch einmal auf Olympia zurück: Hätten wir gegen Frankreich von Beginn an nicht diesen Respekt gezeigt, hätten wir gewonnen. Die Franzosen wussten in der zweiten Halbzeit nicht mehr, was sie gegen die deutsche Abwehr machen sollen. Gefühlt sind wir auch stärker als Dänemark, weil wir in der Breite besser aufgestellt sind. Bei den Dänen konzentriert sich das Spiel im Angriff sehr auf Mikkel Hansen. Natürlich haben sie eine gute Abwehr und mit Niklas Landin einen überragenden Torhüter dahinter. Aber das deutsche Spiel ist insgesamt deutlich variantenreicher. Und in der Abwehr hat das DHB-Team alle Tugenden, die man braucht, um sehr gut zu sein.
Sigurdssons Abschied wirft den DHB nicht zurück
Henning Fritz: Dagur Sigurdsson war derjenige, der den Mut hatte, junge Spieler in diese Mannschaft einzubauen. Er hat das Gesicht der Mannschaft deutlich verändert und war damit sehr schnell sehr erfolgreich. Das muss man zunächst einmal festhalten. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es auch ohne Sigurdsson erfolgreich weitergehen wird, weil wir aktuell so viele gut ausgebildete Spieler haben und die Qualität im deutschen Handball einfach sehr hoch ist. Egal, was der neue Trainer taktisch plant, er hat viele Möglichkeiten, die Basis ist geschaffen. Und ein Blick in die Junioren-Nationalmannschaften zeigt, dass weitere gute Spieler nachkommen.
Markus Götz: Dieser These möchte ich ganz deutlich widersprechen. Meiner Meinung nach hat die Mannschaft in Polen und in Rio extrem von einem ganz außergewöhnlichen Geist profitiert, der in dieser Gruppe und mit diesem Trainer entstanden ist. Ich habe schon jetzt die Befürchtung, dass die Tatsache, dass Sigurdsson nach der WM weg ist, Einfluss auf diesen Geist haben könnte. Ich hoffe, ich werde eines Besseren belehrt. Aber gefühlt ist die Magie bereits jetzt nicht mehr zu 100 Prozent da. Natürlich sehe auch ich wie Henning das große Potenzial, das im deutschen Handball steckt. Doch dass sich das, was in der Zeit unter Sigurdsson positiv passiert ist, unter einem anderen Trainer problemlos 1:1 fortsetzen lässt, glaube ich nicht.
Sascha Staat: Das kommt darauf an, ob der designierte Nachfolger Christian Prokop von den Spielern so akzeptiert wird, wie das bei Sigurdsson vom ersten Tag an der Fall war. Dessen Vorgänger Martin Heuberger hatte definitiv auch ein Autoritätsproblem. Sigurdsson kam als Erfolgstrainer aus der Bundesliga, keiner, vor allem die jungen Akteure nicht, hätten je seine Kompetenz in Frage gestellt. Gelingt es Prokop, die Spieler ähnlich hinter sich zu bringen, wie das dem Isländer bisher gelang, ist der DHB weiterhin gut aufgestellt. Die aktuelle Spielergeneration kann im Kern mindestens noch bis
Tokio 2020 weiterspielen. Akteure wie Andreas Wolff, Paul Drux, Jannik Kohlbacher oder auch ein Tim Suton, der gar nicht bei der WM dabei ist, haben mindestens noch zehn Jahre auf einem hohen Niveau vor sich.
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Felix Götz: Der DHB ohne Sigurdsson - irgendwie kann ich mich an diese Vorstellung noch immer nicht gewöhnen. Sportlicher Erfolg aufgrund seiner ungeheuren Expertise und sozialen Kompetenz, dazu diese sympathische isländische Coolness. Man kann es drehen und wenden wie man will: Sigurdsson ist der perfekte Bundestrainer. Egal, wer nun seine Nachfolge antreten wird - die Fallhöhe ist enorm. Aber es hilft ja nichts, es muss auch nach Sigurdsson weitergehen. Die massive Kritik, die es bei der Suche nach einem neuen Coach an der DHB-Führung zuletzt gegeben hat, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Bob Hanning & Co. haben sich ein gewisses Vertrauen verdient. Schließlich wurden in den vergangenen Jahren beim DHB unter dem Strich nicht die schlechtesten Entscheidungen getroffen.
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