Diva oder Führungsspieler?

Markus Matjeschk
25. Februar 201113:37
Rolle rückwärts oder Weiterentwicklung? Diego steht in Wolfsburg im FokusGetty
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Einst gefeierter Star in Bremen, heute im Abstiegsstrudel mit dem VfL Wolfsburg und im Kampf mit sich selbst. Diego Ribas da Cunha ist längst zurück in der Bundesliga, doch mittlerweile gibt der 25-Jährige ein völlig anderes Bild ab als noch zu Werder-Zeiten. Was für eine Entwicklung hat Diego durchlaufen? Der Werdegang eines Ausnahmespielers.

Vier Sekunden segelt der Ball quer durchs Weserstadion. Vier Sekunden gebannte Blicke von 40.300 Zuschauern. Vier Sekunden oder 63 Meter geballte Bewunderung für einen Künstler am Ball. Unterkante Latte, der Ball zappelt im Netz. Auf die Stille folgt Ekstase. Diego-Mania in Bremen.

Der Treffer zum 3:1-Endstand gegen Alemannia Aachen wird zum Tor des Jahres 2007 gewählt. Es steht sinnbildlich für Diegos Zeit in Grün-Weiß. Die Zeit des Spielgestalters, ein Star in der Bundesliga.

Vier Jahre später wird Diego beim VfL Wolfsburg erst von Steve McClaren und nach dessen Entlassung auch von Pierre Littbarski mitten im Abstiegskampf kurzzeitig vom Dienst suspendiert und ist auch sonst längst nicht mehr der Spieler, der zu Bremer Zeiten regelmäßig für Furore gesorgt hatte.

Doch wie kam es zu dieser Entwicklung und wie ist Wolfsburgs Spielmacher derzeit einzuschätzen? Eine Chronologie.

Von Santos nach Porto

Diegos Profi-Karriere beginnt in der Heimat beim FC Santos. 2004 folgt der große Sprung nach Portugal. "Der FC Porto ist eine wunderbare Option, um mir meinen Traum von Fußball in Europa zu verwirklichen", freut er sich damals. Diego erhält einen Fünfjahresvertrag, die Ablöse beträgt sieben Millionen Euro.

In Porto hat man hohe Erwartungen an das brasilianische Juwel. Deco hat beim damaligen Champions-League-Sieger nach seinem Weggang nach Spanien große Fußstapfen hinterlassen. Diese gilt es zu füllen. Keine leichte Mission: "Wenn ich auf der gleichen Position wie Deco spielen soll, dann ist das kein Problem für mich. Ich möchte nur nicht mir ihm verglichen werden. Er ist ein großartiger Spieler."

Zwei Jahre lang spielt Diego in Porto, wird einmal portugiesischer Meister und einmal Vize-Meister, dazu Weltpokalsieger 2004. Trotz der Erfolge: Seinen persönlichen Durchbruch schafft Diego in Portugal nicht, dafür ist die Erwartungshaltung eine Nummer zu groß und der Europa-Neuling mit 19 Jahren wohl noch zu jung.

Über Nacht zum Superstar

Für sieben Millionen Euro wechselt Diego im Sommer 2006 zu Werder Bremen. Wieder soll er eine Lücke füllen. Diesmal die des nach Bordeaux abgewanderten Johan Micoud.

Diego schlägt sofort ein, schafft vier Assists und ein Tor in den ersten beiden Spielen. Die Rechnung geht auf. Eine Rechnung, die aus drei Faktoren besteht.

Die drei Diego-Faktoren

Zum einen ist der Druck zunächst gering. Nachdem sich Diego in Porto nicht durchsetzen konnte, ist die Erwartungshaltung zu Beginn seiner Zeit in der Hansestadt nicht zu groß. Auch der Medienrummel hält sich in Grenzen.

Zum anderen schlüpft Diego in Bremen in ein funktionierendes Kollektiv. Die Schaaf-Truppe wurde in der vorhergehenden Saison Vize-Meister. Im Mittelfeld bekommt Diego auf Anhieb seinen Lieblingsplatz: In der Mittelfeld-Raute hinter den Spitzen - die klassische Zehn.

Und dann ist da noch der wohl wichtigste Faktor: Roland Martinez Vazquez. Seit 1999 ist der geborene Cuxhavener bei Werder tätig - als Dolmetscher und erster Ansprechpartner für die Südamerika-Fraktion.

Zwei wichtige Stützen: Martinez Vazquez und Scheinkman

Ein großer Teil der schnellen Integration des brasilianischen Neuzugangs geht auf sein Konto, Diego fühlt sich auf Anhieb wohl.

Es steht ein Behördengang an? Martinez hilft. Er will einkaufen? Ein Anruf bei Roland genügt. Werder stellt quasi ein Mädchen für alles ab. Zudem kümmert sich Landsmann Leo Scheinkman schnell um Diegos Pressearbeit.

Der kann sich voll und ganz auf den Fußball konzentrieren und hat die nötigen Bezugspersonen. Auf den Ertrag muss Werder nicht lange warten.

Nach der durchwachsenen Zeit in Portugal explodiert Diego in der Bundesliga förmlich. 13 Tore und 14 Vorlagen stehen nach der Saison zu Buche. In den kommenden beiden Spielzeiten erreicht Bremens neuer Publikumsliebling ähnliche Werte.

Im letzten Jahr an der Weser holt Bremen mit Diego den DFB-Pokal, im UEFA-Cup-Finale scheitert Werder im Finale nur knapp an Schachtjor Donezk. Diego kann nicht helfen - er ist wegen einer läppischen Gelben Karte aus dem Halbfinale gesperrt.

Seite 2: Wechsel nach Italien und Rückkehr in die Bundesliga

Der nächste große Schritt: die Serie A

Im Sommer 2009 wechselt Diego nach einem langen Hickhack für 24,5 Millionen Euro zu Juventus Turin. Für Diego soll es der nächste große Schritt auf der Karriereleiter sein und ein Zeichen an Nationaltrainer Carlos Dunga. In der Selecao spielt Diego bis zu diesem Zeitpunkt keine echte Rolle, über sporadische Einsätze kommt er nicht hinaus. Der Wechsel in die Serie A soll die Trendwende einläuten.

Für den italienischen Traditionsklub steht Diegos Verpflichtung nach dem Zwangsabstieg und den Querelen um den Manipulationsskandal stellvertretend für das "neue" Juve.

Der Start läuft zunächst auch vielversprechend. Nach seinem Doppelpack gegen die Roma am zweiten Spieltag feiert die italienische Presse den brasilianischen Liga-Neuling: "König Diego", "Maradiego" - die Zeitungen überbieten sich in Superlativen. "Man reibt sich staunend die Augen. Diego hat Juve schon erobert", schreibt die "Gazzetta dello Sport".

Der Neue selbst gibt sich gelassen, weckt aber nassforsch weitere Begehrlichkeiten: "Ich bin noch längst nicht in Top-Form". Doch der große Sturm bleibt aus. Obwohl das System unter Ciro Ferrara mit einer echten Zehn auf Diego zugeschnitten ist, lässt der Brasilianer seine Fähigkeiten nur unregelmäßig aufblitzen.

Das Manko: Führungsqualitäten

Juve erlebt in jener Saison ein Seuchenjahr. Die Mannschaft funktioniert nicht, Diego ist doch nicht der ersehnte Heilsbringer. Zwar ist er gut in die Mannschaft integriert, fällt abseits des Platzes nicht aufgrund irgendwelcher Eskapaden auf.

Doch auf dem Rasen ist Diego nicht derjenige, der die Marschrichtung vorgibt. Er ist ein Soldat, kein Feldherr. Fünf Treffer sind es am Ende in 33 Serie-A-Spielen. Viel zu selten ist Diego direkt am Mannschaftserfolg beteiligt, eine Führungspersönlichkeit ist er trotz des Reifeprozesses in Bremen nie. Für rund 25 Millionen Euro muss man mehr erwarten.

Dazu kommt der Trainerwechsel Ende Januar. Alberto Zaccheroni löst Interimstrainer Ciro Ferrara ab. Mit dem neuen Coach kommt ein neues System. Diego muss auf verschiedenen Positionen ran, eine Situation, die er aus Bremer Zeiten nicht kennt.

Das einjährige Italien-Intermezzo hätte der große Sprung für Diego werden sollen. Es wird unterm Strich zum Desaster. Den Misserfolg der Mannschaft allein am 25-Millionen-Mann festzumachen, wäre allerdings ein zu hartes Urteil und der Situation nicht angemessen. Zu sehr war Juve in der Saison 2009/2010 mit sich selbst beschäftigt.

Vergleich geht an Del Piero

Die alte Dame ging ein ganzes Jahr am Stock. Für einen Neuling keine einfache Situation, nicht in ein festes Gefüge, sondern in eine lose Ansammlung von Spielern zu geraten. Noch dazu mit einer völlig anderen Spielphilosophie als in Deutschland.

Dennoch wird Diegos größtes Manko zunehmend sichtbar. Er ist kein Führungsspieler. Eines der engen Spiele an sich zu reißen, der Mannschaft mit Präsenz Auftrieb verleihen - all das vermag er nicht zu leisten.

Im Gegensatz zu Alessandro Del Piero, mit dem er rein positionsbezogen immer wieder verglichen wird. Zwar überzeugt auch das Juve-Urgestein in jener Saison nicht konstant, doch Del Piero setzt mit seinen Auftritten wichtige Signale und stemmt sich gegen die Lethargie. Eine Einstellung, die man bei Diego vergeblich sucht.

Der Schritt, von Bremen zu einem der größten und traditionsreichsten Klubs Europas zu wechseln, ist auch im Nachhinein absolut nachvollziehbar. Doch eine Weiterentwicklung lässt sich bei Juve nicht festmachen. Eher im Gegenteil. Nach nur einem Jahr kehrt Diego Italien wieder den Rücken. Es geht zurück in die Bundesliga.

Rückkehr nach Deutschland

15,5 Millionen Euro legt Wolfsburg-Manager Dieter Hoeneß auf den Tisch, um Diego in die VW-Stadt zu lotsen. Nach der eher durchschnittlichen Saison 2009/2010 (Rang acht) ist Europa das erklärte Ziel.

Diegos Auftritte schwanken stark. Von glänzenden Vorstellungen bis hin zu lustlosen Auftritten - der auserkorene Dreh- und Angelpunkt zeigt die ganze Palette. Läuft es im Spiel, versprüht er seine magischen Momente. Läuft es nicht, zieht er den Karren nicht aus dem Dreck. Vorwürfe, die sich auch in Wolfsburg bestätigen. Diegos spielerische Klasse ist unbestritten, doch der Mangel an Leader-Qualitäten bleibt.

Negativer Höhepunkt ist der Kabinen-Zoff mit Ex-Trainer Steve McClaren und die darauffolgende Suspendierung für das Spiel gegen den Hamburger SV.

Die Auseinandersetzung zeigt eines auf: Diego hat nicht mehr den Status des unangefochtenen Stars, den er aus Bremer Zeiten kannte.

Trainerwechsel als große Chance

Doch der Rauswurf von McClaren und die Beförderung von Pierre Littbarski zum Cheftrainer könnten der Beginn einer neuen Zeitrechnung beim VfL sein.

Littbarski weiß aus seiner Zeit in der australischen A-League, wie er mit exponierten Spielern umzugehen hat. Als Trainer des FC Sydney hatte er Dwight Yorke als sogenannten Marquee Player im Kader. Yorke verdiente als einziger Spieler deutlich mehr als alle anderen. "Mit Dwight Yorke zu arbeiten, war für mich bis heute eines der größten Erlebnisse meiner Trainerkarriere", sagte Littbarski vor einiger Zeit im Interview mit SPOX.

Auf dem Platz bekommt Diego jetzt wieder mehr Freiheiten, wird von jeglichen Defensivaufgaben entbunden, im Training zeigt er nach der Suspendierung die richtige Reaktion und arbeitet viel.

Zuletzt deutliche Steigerung

Gegen Freiburg ist Diego trotz der Niederlage der beste Mann auf dem Platz. Immer anspielbar, torgefährlich, zweikampfstark. Es gilt, den Eindruck auf Dauer zu bestätigen. Diegos Charakter ist gefragt. Gerade jetzt, mitten im Abstiegskampf. Am besten schon am Freitag gegen Mönchengladbach (20.15 Uhr im LIVE-TICKER).

Altkanzler Helmut Schmidt hat einmal gesagt: "In der Krise beweist sich der Charakter." Diego nach der gescheiterten Mission Italien ein für alle Mal als mangelhaften Führungsspieler abzustempeln, ist mit Sicherheit zu früh. In Wolfsburg muss er jetzt beweisen, was für ein Typ er wirklich ist.

Der Kader des VfL Wolfsburg im Überblick