"Ein Tag, den ich nie vergessen werde"

Wolff Fuss
31. Dezember 200810:42
Ümit Özat kollabierte beim Spiel in Karlsruhe. Er befand sich kurzzeitig sogar in LebensgefahrGetty
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2008 hat jede Menge zu bieten: Hitzfeld und Kahn feierten Abschied, Klinsmann und Hoffenheim eroberten die Bundesliga, die EM in Österreich und der Schweiz war an Dramatik kaum zu übertreffen und den Ausrutscher schlechthin leistete sich ein gewisser John Terry ausgerechnet im Finale der Champions League. Auf das und noch viel mehr blickt Premiere-Kommentator Wolff Fuss in seinem Jahresrückblick für SPOX zurück.

N wie Notwehr: Lassen Sie uns offen sprechen. Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade zu Unrecht vom Platz gestellt worden. Sie haben noch immer Schaum vor dem Mund und plötzlich stellt sich Ihnen  ein weißer Plastikstuhl in den Weg. Provozierend, lässig, auch noch unbesetzt. Er steht einfach nur da und guckt. Jetzt sind Sie nicht irgendwer, sondern haben sich den Beinamen "unbeliebtester Spieler der Liga" hart erarbeitet. So ein Titel will im täglichen Überlebenskampf verteidigt werden. Insofern geben Sie es dem Stuhl so richtig. Weil Sie aber Maik Franz heißen und eigentlich ein richtig netter Kerl sind, verteidigen Sie den Titel nicht nur souverän, sondern verhelfen einem weißen Plastikgartenstuhl zu einem Platz in den Bundesligaanalen - direkt neben Klinsis Sanyo-Tonne.

O wie Oligarch: Vorzeige-Oligarch im Fußball ist nach wie vor Roman Abramowitsch. Gerüchteweise wird immer wieder mal unterstellt, gerade auch jetzt wieder in Zeiten der Finanzkrise, er sei seines Spielzeugs überdrüssig und wolle sich des Vereins entledigen. Wie viel Wahrheit dahinter steckt, ist schwer zu beurteilen. Im vergangenen Jahr haben wir aber durchaus gelernt, Abramowitsch auch, dass das Großkapital Asiens mehr und mehr in den Fußball drängt. Manchester City  beispielsweise wird jetzt jovial alimentiert mit Dollars aus Dubai und bietet auf alles und jeden, was sich Topstar nennt. Spannend, interessant, gefährlich. In Deutschland gilt weiter 50 plus 1.

P wie Podolski, Lukas: Was ein Quälthema (siehe auch M wie Machtkampf)! Ein begnadeter Fußballer, der allerdings nur im Schatten des Kölner Doms funktionieren will. Heimat vor Karriere, das ist ungewöhnlich aber zu respektieren. Bleibt zu hoffen, dass Advents- und Weihnachtkollekte in Köln üppig ausfallen, so dass man ihn beim FC finanzieren kann. Nicht auszudenken, wenn nicht. Denn: Ginge er nach Dortmund oder Hamburg, bliebe uns das Thema auf Jahre erhalten.

Q wie Quengelei: Selten wurde im deutschen Fußball so viel gequengelt und gejammert wie im abgelaufenen Jahr. Podolski fühlt sich in München nicht heimisch, Frings in der Nationalmannschaft nicht ausreichend gewürdigt, Kuranyi trifft erst das Tor nicht und dann eine überhastete Entscheidung. Und das sind nur die prominentesten Beispiele. Alle warben vor breiter Öffentlichkeit um Verständnis. Die sonst so verständige Nation hob kollektiv die Augenbrauen.

R wie Ribery, Franck: Der beste Spieler der Bundesliga. Der einzige, der sich rosafarbene Schuhe leisten kann oder eben giftgrüne, ohne ausgelacht zu werden. So macht er aus einem an sich modischen Fehlgriff etwas durchweg Putziges. Habe die Schuhe auch bei Nicklas Bendtner von Arsenal gesehen, da wirken sie etwas befremdlich.

Franck Ribery im SPOX-Interview

S wie Schalke 04: Man wird irgendwie das Gefühl nicht los, dass man auf Schalke bezüglich der Stärke der eigenen Mannschaft regelmäßig Fehleinschätzungen unterliegt. Qualität und finanzieller Aufwand stehen bisweilen in einem sensationellen Missverhältnis. Aus Slomka wurde Rutten, die sportlichen Entwicklungen sind rückläufig. Emotionen sind ein hohes und gleichzeitig sehr gefährliches Gut auf Schalke. Die Baustelle bleibt uns mutmaßlich auch 2009 erhalten.

T wie Titan: Irgendwo zwischen Mensch und Maschine liegt die Wahrheit. Wobei Oliver Kahn zum Ende seiner Karriere immer mehr Mensch wurde. Bemerkenswert war ein Satz in dem Meer von Nachrufen und Würdigungen auf seine Karriere, worin er sinngemäß zum Ausdruck brachte, dass er bei allem Druck und aller Anspannung häufig vergaß, Fußballspiele zu genießen.

Premiere-Kommentator Wolff FussPremiereU wie Unglück: Der 29. August. Ein Tag, den ich nicht vergessen werde. Karlsruhe Wildparkstadion, volles Haus, Flutlichtspiel, der KSC gegen den 1.FC Köln. All das Makulatur, als Ümit Özat plötzlich umkippt. Ohne Gegenspielereinwirkung, scheinbar grundlos. Neben mir sitzt Winni Schäfer, bleich, er denkt sofort an Marc-Vivien Foe, seinen kamerunischen Nationalspieler, der auf dem Platz starb, ich denke sofort an Sevillas Antonio Puerta. Trotzdem weitermachen, immer weitermachen. Im Stadion kollabieren unter dem Eindruck der Szene einige Fans. Via Kopfhörer bekomme ich mitgeteilt: Ümit lebt. Schiedsrichter Meyer setzt nach Rücksprache mit den Spielern die Partie fort. Beifall im Stadion, als der Stadionsprecher mitteilt, dass es Ümit besser geht. Spiel und Ergebnis bleiben nebensächlich. Geçmiş Olsun Ümit!

V wie Verletzung: Es gab sie wieder reichlich. Am brutalsten war sicher die von Arsenals Eduardo im Februar bei Birmingham City. Ein Unterschenkel nur noch von wenigen Fetzen zusammengehalten. Es grenzt an ein medizinisches Wunder, dass er mittlerweile wieder trainiert und sogar schon wieder für die Reserve gespielt hat. Mittlerweile wirft ihn eine Zerrung zurück. Eine handelsübliche, branchentypische Zerrung! Schwamm drüber.

W wie Würger:  Diegos Jahr war in jedem Fall bemerkenswert: Erst entfernte er sich unerlaubt von der Truppe Richtung Peking, dann folgten wechselhafte Leistungen mit Werder Bremen, schließlich erarbeitete er sich noch den Beinamen "der Würger", um dem ohrfeigenden Claudio Pizarro zur Seite zu springen. Und er sorgte dafür, dass der Boulevard ihn mittlerweile auf dem Radar hat und vor Bremer Edelitalienern und Promi-Bäckereien die Fotografen im Gebüsch liegen. Ja, es ist wieder ein Stück heile Welt kaputt gegangen. Diego und Sarah in love, oder doch nicht? Privatsache! Ein Schnulzchen vor den Feiertagen.

X wie Xavi: An dieser Stelle erstmal danke für den Anfangsbuchstaben deines Namens. Seit Jahren einer der besten Spieler der Welt, seit Sommer Europameister. Er  interpretierte die Position im defensiven Mittelfeld neu. Wird jetzt beim FC Barcelona von seinem Vorgänger und Vorbild Pep Guardiola trainiert. Beide marschieren aktuell Hand in Hand zur nationalen Meisterschaft und sind mein persönlicher Topfavorit im Kampf um den Champions-League-Sieg.

Y wie Year, Player of the: Da habe ich was ganz Kreatives beizutragen: Cristiano Ronaldo. Er spielte die Saison seines Lebens bei Manchester United. Allerdings dicht gefolgt von Fernando Torres, dem Mann, der Spanien zum Europameister machte.

Z wie Zahlenspiele: Es ist verrückt, wie und in welchem Umfang in diesem Jahr die Thematik Fußballtaktik Einzug in die deutschen Wohnzimmer hielt. 4-4-2, 4-2-3-1, 4-3-3, 4-3-2-1, 4-5-1 und das ist nur das geläufigste. Jede Familie, die was auf sich hält, spielt mittlerweile mit Sechser und Zehner. Früher forderten die Fans schlicht Spieler A oder Spieler B, mittlerweile fordern sie Systeme. Das 4-4-2 beispielsweise lässt sich sehr gut brüllgerecht als Schlachtruf verpacken. Nie hatte dieses Land mehr Trainer als heute. Die nächste Stufe wäre dann, von der eigenen Mannschaft Vertikalspiel, besseres Verschieben, einheitlicheres "gegen den Ball gehen" zu fordern. Ich freu mich auf die Verbalkreationen in den Stadien.

Teil 1: Wolff Fuss über Ballack, Chelsea, Daum, Diego, Hoffenheim und Klinsmann