Der taube Fußballprofi Simon Ollert im Interview: "Es ist wie in einer Bahnhofshalle"

Stefan Zieglmayer
13. Februar 201809:42
Simon Ollert ist von Geburt an medizinisch taub.Phonak
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Simon Ollert ist von Geburt an medizinisch taub - und dennoch Fußballprofi. Dank einer geringen Resthörigkeit kann er mithilfe eines Hörgeräts Geräusche wahrnehmen und kommunizieren. Auf dem Platz ist das nicht möglich.

Im Interview erklärt der 20-Jährige, wie das Zusammenspiel mit seinen Mitspielern funktioniert, wie er fremde Mütter zu Tränen rührte und was in Deutschland mit Blick auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung schiefläuft.

SPOX: Herr Ollert, lassen Sie uns über Musik sprechen.

Simon Ollert: Über Musik?

SPOX: Ja. Welche Musikrichtung hören Sie gern?

Ollert: Hip-Hop oder Pop.

SPOX: Weil?

Ollert: Weil sich der Bass öfter abwechselt und die Lieder melodischer sind. Ich spüre Musik eher, als dass ich sie höre. Von den Texten verstehe ich überhaupt nichts. Auch nicht, wenn ich voll aufdrehe.

SPOX: Sie sind von Geburt an taub.

Ollert: Richtig, ich bin medizinisch taub. Ohne Hörgeräte höre ich nichts, aber es gibt eben eine gewisse Resthörigkeit. Geräusche ab 100 Dezibel (vergleichbar mit einer Motorsäge; Anm. d. Red.) nah an meinem Ohr höre ich in einem leisen Flüsterton. Oft ist das dann von der Umgebung abhängig. Je lauter die Umweltgeräusche sind, desto mehr bin ich von den Lippenbewegungen abhängig.

SPOX-Redakteur Stefan Zieglmayer traf Simon Ollert zum persönlichen Gespräch in Münchens Innenstadt.Phonak

SPOX: Im Stadion gibt es jede Menge Umweltgeräusche.

Ollert: Das stimmt. Man kann sich das vorstellen wie in einer lauten Bahnhofshalle. Es prasseln unglaublich viele verschiedene Geräusche auf einen ein, man versteht aber eigentlich gar nichts. So ist es im Fußballstadion mit den ganzen Fans und Trommeln.

SPOX: Den Schiedsrichterpfiff bekommen Sie erst mit, wenn keiner außer Ihnen noch weiterspielt. Wie sieht es mit Anweisungen von Mitspielern oder Trainern aus?

Ollert: Auf dem Platz verstehe ich sie nicht. Ich bin ausschließlich von meinen Augen abhängig. Sollte es tatsächlich etwas Wichtiges sein, muss ich eben kurz zum Trainer rauslaufen.

SPOX: Wie kann man sich das Zusammenspiel mit Ihren Mitspielern vorstellen?

Ollert: Es gibt Situationen, in denen andere Spieler sicher einen Vorteil haben: Wenn ich mit dem Rücken zum Gegner stehe, weiß ich nicht, von welcher Seite er kommt. Deswegen bin ich ein Stürmer, der das Spiel gerne schnell macht. Ich antizipiere die Optionen in meinem Blickfeld und entscheide mich dann meist für den direkten Pass.

SPOX: Was ist, wenn Sie mit dem Rücken zum Spielgeschehen stehen?

Ollert: Wenn ich neu zu einer Mannschaft hinzustoße, dauert es immer ein paar Wochen, bis sich die Mitspieler auf mich eingestellt haben und andersherum. Jeder Spieler hat seine Vorlieben an Lauf- und Passwegen. Das muss ich mir dann einprägen und mich entsprechend bewegen.

SPOX: Hat Ihre Behinderung auch irgendwelche Vorteile?

Ollert: Auf jeden Fall. Oft kann man sich viel besser auf sein eigenes Spiel konzentrieren. Ich erkenne auch viele Situationen früher, die andere nicht erkennen. Mein peripherer Blick hat sich deutlich verbessert.

SPOX: Schalten Sie Ihr Hörgerät dann überhaupt an?

Ollert: Ja, immer. Ich bin Stürmer. Wenn ich ein Tor schieße, genieße ich einfach diese Lautstärke, auch wenn ich keine Details heraushöre. Die Stimmung kann ich aber trotzdem aufsaugen.

SPOX: In Ihrem Kinderzimmer hängt ein DIN-A4-Blatt, auf dem handschriftlich geschrieben ist: "Mein Ziel: Fußballprofi werden." Rein formell hatten Sie dieses Ziel schon erreicht, als Sie mit 17 Jahren Ihren Profivertrag bei der SpVgg Unterhaching für die 3. Liga unterschrieben. Fühlt es sich auch so an, als hätten Sie Ihr Ziel bereits erreicht?

Ollert: Nicht wirklich. Ich war damals 17 und noch sehr unerfahren. Ich konnte das noch gar nicht so richtig realisieren. Wir sind damals ja auch leider abgestiegen. Ich bin dann zum FC Ingolstadt in die U19-Bundesliga gewechselt und später von der U23 der Schanzer zum Regionalligisten FC Memmingen. Mein Ziel ist es, wieder in den Profibereich zu kommen.

SPOX: Derzeit sind Sie vereinslos. Gestaltet sich die Suche in Ihrem Fall besonders schwierig?

Ollert: Es ist im Fußball ob der zahlreichen Konkurrenz generell schwierig. Das hängt von vielen Faktoren ab. Mein Berater und ich üben uns in Geduld. Vom Verein bis zum Trainer sollte wirklich alles passen. Deswegen mache ich mir keinen allzu großen Stress.

SPOX: Haben Sie das Gefühl, dass es bei den Vereinen eine gewisse Hemmschwelle gibt, einen tauben Spieler zu verpflichten?

Ollert: Ich kann es mir schon vorstellen. Versteht der mich überhaupt? Kann ich mit dem kommunizieren? Das ist natürlich eine Umstellung für einen Trainer. Da muss man auch die Trainer ein wenig verstehen. Es gibt sicherlich eine Hemmschwelle, aber wenn man sich etwas auf mich einlässt, merkt man schnell, dass das alles kein großes Problem ist.

SPOX: Die Ursprünge des Gehörlosensports in Deutschland reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. 1888 wurde der erste Gehörlosensportverein in Berlin gegründet. Dennoch gibt es nur sehr wenige gehörlose Profisportler. Wie erklären Sie sich das?

Ollert: Gerade in Mannschaftssportarten, also Kommunikationssportarten, ist es natürlich sehr schwierig, sich zu etablieren. Ich denke, das Problem liegt eher am Selbstvertrauen der gehörlosen Kinder und Jugendlichen. Oft wird ihnen von allen möglichen Seiten gesagt, dass sie aufgrund ihrer Behinderung bestimmte Dinge besser lassen sollten. Und gerade in solch einem Alter, in dem du von Erwachsenen abhängig bist, machst du das dann auch nicht. Aber das ist Quatsch.

SPOX: Sie veranstalten in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Hörgerätunternehmen Phonak bereits zum dritten Mal das Simon Ollert Fußball-Camp für schwer hörgeschädigte Kinder.

Ollert: Ich wollte den Kindern und auch ihren Eltern einfach zeigen, dass sie großes Potenzial haben und dass man damit arbeiten kann. Dabei geht es um Ballgefühl und fußballerisches Geschick. Die Jugendlichen können lernen, sich mit anderen zu messen und so im spielerischen Rahmen Selbstvertrauen und Mut gewinnen. Wir haben das Ziel, Kinder mit Hörverlust in ihrer Entwicklung zu fördern.

SPOX: Ihr Fall kann eine Inspiration für viele Kinder sein, während andere Menschen in Ihrem Alter sich noch nicht einmal ihrer eigenen Zukunft sicher sind. Wie fühlt es sich an, mit 20 Jahren diese Vorbildfunktion auszufüllen?

Ollert: Mir ist durchaus bewusst, dass ich eine Verantwortung gegenüber den Kindern habe. Ihnen fehlt einfach Selbstvertrauen und das möchte und kann ich ihnen vermitteln. Ich sehe auch im Camp, wie sich die Kinder weiterentwickeln. Bei einigen Müttern floss durchaus ­die eine oder andere Träne. Manche sagten uns, sie hätten ihr Kind noch nie so glücklich gesehen. Das ist dann schon sehr emotional. Daher ist der Andrang in jedem Jahr groß.

SPOX: Wie groß?

Ollert: Im vergangenen Jahr erhielten wir Anfragen aus den USA, die leider etwas zu spät eingegangen sind. Aber: Einer schaffte es aus Russland ins schöne Ettal. Er konnte weder Deutsch, noch Englisch oder Gebärdensprache. Und dennoch blühte er in diesen fünf Tagen richtig auf. Er wollte gar nicht mehr nach Hause. (lacht)

SPOX: Die magische Kraft des Fußballs.

Ollert: Das kann man wohl sagen. Ähnliches habe ich auch in Malawi erlebt, wo ich als Markenbotschafter von Phonak ein Projekt der Stiftung Hear the World besucht habe. Die Kinder dort haben immer und überall Fußball gespielt. Sie knüllten Mülltüten zu einer Kugel, klebten sie zusammen und spielten damit barfuß Fußball. Sport kann generell als eine Art Therapie fungieren. Wenn ich in meiner Kindheit irgendwelche Probleme hatte, sei es in der Schule oder mit meinen Eltern, schnappte ich mir einen Ball und bolzte aufs Tor.

Simon Ollert besuchte ein Hear-the-World-Projekt in Malawi.Phonak

SPOX: Wurden einige dieser Probleme durch Ihr geringes Hörvermögen ausgelöst? Gerade für Jugendliche mit einer Behinderung gibt es ein gewisses Isolationsrisiko.

Ollert: Ich wuchs in meiner Umgebung als Exot auf, da ich das einzige Kind mit Hörgeräten war. Es ist allerdings wichtig, Kinder mit Behinderung nicht übersensibel oder bevorzugt zu behandeln. Meine Eltern warfen mich immer wieder ins kalte Wasser. Wenn ich in der Schule geärgert wurde, sagte mein Vater nur: "Dann ärger' doch zurück. Ich kann da nichts machen." Genau damit hat er mir sehr geholfen. Inklusion beginnt mit dem schonungslos offenen Umgang zwischen Menschen ohne und Menschen mit Behinderung. Beide Welten verstecken sich leider ein bisschen voreinander.

SPOX: Welche einfachen Änderungen würden Ihrer Meinung nach zu einem höheren Maß an Inklusion beitragen?

Ollert: Man könnte beispielsweise im Kino Untertitel einführen - mit einer Art 3D-Brille für Untertitel. Genauso sollte man an Bahnhöfen die Durchsagen auch lesen können. An öffentlichen Orten würde das auch die Mitmenschen etwas mehr für dieses Thema sensibilisieren.

SPOX: Nicht einmal alle TV-Sender bieten Untertitel an.

Ollert: Das stimmt. In Österreich ist es zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben. Ich bin der Meinung, dass viele Bemühungen um Inklusion eher alibimäßig sind, um die Leute zufriedenzustellen. Im Grunde passiert aber nichts. Dabei wäre es so einfach. Zum Teil fehlt einfach nur eine Unterschrift. Das ist sehr schade. Und das trifft auch auf die Sportpolitik zu.

SPOX: 2016 bekamen die deutschen Paralympics-Athleten zum zweiten Mal dieselben Prämien für eine Goldmedaille wie ihre olympischen Kollegen. Ein scheinheiliger Akt?

Ollert: Ich sehe das schon so. Ich finde, es wird darunter viel zu wenig gemacht. Im Gehörlosenfußball gibt es beispielsweise keine Jugendmannschaften, weil einfach nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wird. Die Kinder müssen entweder im Erwachsenenbereich mitspielen oder bei anderen Vereinen unterkommen. Das ist sehr schwer für sie. Viele Vereine verstecken sich vor dieser Herausforderung. Mir kam zum ersten Mal der Gedanke zu meinem eigenen Fußball-Camp, als mir ein Vater erzählte, dass er seinen tauben Sohn bei einem Verein anmelden wollte. Und der antwortete dann, es sei schwierig, da der Verein nur via Telefon korrespondieren würde und nicht per E-Mail- oder Textverkehr. So etwas ist dann natürlich besonders traurig.