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Auf den Spuren der Seahawks

NaVorro Bowman und die Defense der San Francisco 49ers könnten 2017 eine deutliche Wende hinlegen
© getty

Die San Francisco 49ers haben mehrere enttäuschende Spielzeiten hinter sich: Seit den erfolgreichen Tagen unter Jim Harbaugh ist viel Zeit vergangen, Kyle Shanahan ist damit betraut, die Offense zu weiten Teilen komplett neu aufzubauen. Doch es ist die Defense, die das Team 2017 tragen könnte - angeführt von einer jungen, hochtalentierten Front. Und dabei ausgerechnet auf den Spuren der Seattle Seahawks.

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"Ich denke, unsere Front Seven kann ohne Wenn und Aber dominant sein. Wir haben das Talent dafür. Jetzt müssen wir schlicht auch die notwendige Arbeit investieren." Man könnte diese forsche Prognose von San Franciscos Defensive Lineman DeForest Buckner schlicht als Offseason-Floskel abtun. Jedes Team glaubt schließlich nach der Free Agency und dem Draft an irgendeinem Punkt zwischen Mai und Juli, dass es alles hat, um den ganz großen Wurf hinzulegen.

Die Aussage mit Blick auf die San Francisco 49ers lässt aber dann doch aufhorchen. Immerhin ließ in der vergangenen Saison kein Team mehr Yards pro Run zu als die Niners (4,8), die mit 2.654 kassierten Rushing-Yards (Franchise-Negativrekord) alle anderen weit hinter sich ließen - die Browns ließen die zweitmeisten Rushing-Yards zu, mit derer 2.283.

Woher also kommt der plötzliche Optimismus? Buckners Einschätzung dürfte auf seinem persönlichen Fortschritt basieren. Auf einem hochinteressanten Draft. Und vor allem auf dem neuen Scheme, das die 49ers komplett umkrempeln und ihrer Defense 2017 ein ganz anderes Gesicht geben könnte.

Die 49ers auf den Spuren der Seattle Seahawks

Auch NFL-Fans, die schon seit einer Weile dabei sind, dürften sich bei der Vorstellung des neuen 49ers-Trainerstabs erst einmal gefragt haben: Wer ist Robert Saleh? San Franciscos neuer Defensive Coordinator hatte bislang keinen Glamour-Posten. Defensive Line Coach und Co-Linebacker-Coach in Houston, dann von 2011 bis 2013 als Defense-Assistent in Seattle sowie von 2014 bis 2016 als Linebackers-Coach in Jacksonville. Der Niners-Job ist für den 38-Jährigen der erste Coordinator-Posten überhaupt im Football.

Doch die vergangenen sechs Jahre geben zumindest einen gewissen Kontext. Saleh hat den Aufstieg der dominanten Defense in Seattle miterlebt und anschließend in Jacksonville unter Ex-Seahawks-Coordinator Gus Bradley eine sehr ähnliche Variante dieser Defense trainiert: Es handelt sich um die 4-3- (vier Defensive Linemen, drei Linebacker) sowie Cover-3-Defense (drei Defensive Backs, die sich den tiefen Part des Feldes in drei Zonen aufteilen).

Aus Sicht der 49ers eine gravierende Umstellung, haben die Niners doch über Jahre hinweg eine 3-4-Defense sowie dahinter vor allem Cover-2-Defense, also zwei tief postierte Safeties, gespielt. Und das zwischenzeitlich mit großem Erfolg, unter Jim Harbaugh hatte San Francisco vor rund fünf Jahren die wohl beste Defense der Liga. Doch Qualität, Erfahrung und Explosivität gingen zunehmend verloren. Der neue Head Coach Kyle Shanahan entschied sich daher mit Seattles Cover-3-Defense für einen neuen Weg, den er seinerseits in den vergangenen Jahren in Atlanta unter Dan Quinn - ein weiterer Ex-Seahawk - bereits miterlebt hat.

Gleichzeitig stellte Shanahan jedoch auch klar: "Seattle postiert bei jedem einzelnen Spielzug einen Linebacker an der Line of Scrimmage, genau wie Atlanta. Somit hat man fünf Spieler an der Line. Das kann man jetzt 4-3 oder 3-4 nennen."

Wie funktioniert Seattles 4-3-Defense?

"Ähnlichkeiten" zu Seattle, gibt Saleh offen zu, werde man möglicherweise schon sehen, "aber wir werden auch eigene Elemente nutzen, welche die anderen Teams mit dieser Defense nicht verwenden". Klar ist: San Francisco hat das Spielermaterial, um nicht nur schnell den Sprung hin zu dem neuen Defense-Scheme zu schaffen. Sie haben auch die individuelle Qualität, um hierbei früh einige Teams böse zu überraschen. Bei all der Spannung um Shanahan und seine Qualitäten als Offense-Mastermind: Es ist die defensive Front, die in San Francisco für Vorfreude sorgen sollte.

In der 4-3-Defense, wie sie Seattle spielt, sind die Aufgaben für die vier Defensive Linemen klar definiert. Es gibt zwei Interior-Tackle, einer davon ist der Nose Tackle, der sich schräg versetzt zum Center aufstellt, der andere der 3-Technique-Tackle, also zwischen Guard und Offensive Tackle positioniert. Der 4-Technique-Tackle stellt sich auf der Strongside der Offense auf, sprich die Seite der Offensive Line mit mehr Spielern direkt an der Line of Scrimmage. Meist ist das schlicht die Seite, auf welcher der Tight End ist.

Der sogenannte LEO ist der primäre Pass-Rusher der Front, er stellt sich auf der Weakside und dort schräg versetzt zum Offensive Tackle auf. Seine oberste Aufgabe ist es, seine Eins-gegen-eins-Duelle zu gewinnen und zum Quarterback zu kommen.

San Francisco: Vorfreude auf Buckner, Thomas und Co.

Wann immer ein Team seine Defense von einer 4-3 auf eine 3-4 oder umgekehrt ändert, ist die spannende Frage: Wie passt das vorhandene Personal in das neue Scheme? Das gilt im Fall der 49ers ganz besonders, ist doch die Defensive Line mit Buckner, Arik Armstead und Erstrunden-Pick Solomon Thomas das Prunkstück.

Diese drei in mehreren Aspekten nicht unähnlichen Spieler gleichzeitig an der Line unterzubringen, wird nicht einfach. Thomas etwa könnte auch als LEO auflaufen, präsentiert allerdings von den dreien - so der Eindruck seines College-Tapes - die beste Mischung aus Defensive Tackle und Defensive End. Daher passt zu ihm die Rolle, die Michael Bennett bei den Seahawks einnimmt: Defensive End in der Base-Defense, Defensive Tackle in der hauptsächlich genutzten Nickel-Defense, also mit fünf statt vier Defensive Backs.

Als 3-Technique-Tackle passt Buckner, der als Interior-Lineman den Run verteidigen und gleichzeitig Druck auf den Quarterback ausüben kann. Die Nose-Tackle-Rolle dürfte Earl Mitchell übernehmen, offen ist also noch der LEO.

Hier wird es interessant, denn per Ausschlussverfahren bleibt Armstead übrig - seine natürlich Position ist das jedoch nicht, wenngleich er über den Sommer abgenommen hat und explosiver geworden sein soll. Aaron Lynch ist in Topform prädestiniert für diese Rolle, präsentierte sich im Mai aber deutlich übergewichtig. So wäre in diesem Szenario hier eine Rotation aus Armstead, Lynch und dem jüngst verpflichteten Elvis Dumervil nicht unwahrscheinlich. All das könnte dann bei den 49ers konkret so aussehen:

DeForest Buckner und die kritische 1.000

Gerade Armstead sollte gleichzeitig auch an anderen Punkten in der Defensive Line zu Snaps kommen - D-Line-Coach Jeff Zgonina setzt auf viel Rotation, damit seine Spieler frisch bleiben: "Ich mag es nicht, wenn ein Spieler über eine Saison mehr als 1.000 Snaps absolviert. Ich bin ein Fan der Rotation. Ich darf nach eigenem Ermessen so viel durchwechseln, wie ich will. Und das werde ich auch tun. Ich habe den Jungs gesagt, dass sie mir nur vier oder fünf Plays mit vollen 100 Prozent geben müssen, dann nehme ich sie kurz raus."

Damit sollen Snap-Explosionen wie die von Buckner im Vorjahr verhindert werden. Als Rookie hatte der D-Liner über 1.000 Snaps, die meisten aller Interior-Defender. "Manchmal war ich komplett erschöpft, aber ich wurde nicht ausgewechselt", gab Buckner nach Saisonende zu. "Ich hatte dann den Eindruck, dass ich dem Team eher geschadet als geholfen habe." Trotzdem führte er mit 35 Defensive-Stops alle Rookie-Interior-Defender an, dazu kamen sechs Sacks und 73 Tackles.

Auch mit weniger Snaps könnte Buckner diese Stats 2017 erneut erreichen, denn unter Zgonina wird die D-Line aggressiver zu Werke gehen: Statt eines Two-Gap-Systems, in welchem ein Defensive Lineman für zwei Bereiche zuständig ist und somit den Spielzug analysieren und abwartender agieren muss, lässt Zgonina ein One-Gap-System spielen. Bedeutet vereinfacht gesagt, dass jeder Defensive Lineman einen Bereich - beispielsweise also die Lücke zwischen Center und Left Guard - attackiert und nicht erst abwarten muss, was die Offense macht. Einem explosiven, großen Spieler wie Buckner kommt das in der Mitte der Line äußerst zugute.

Die Linebacker und die Suche nach Earl Thomas

Allerdings ist nicht nur die Defensive Line der Niners ein spannendes Experiment. Auch die Linebacker werden sich umstellen müssen. Einst mit Bowman, Patrick Willis, und Chris Borland das Herz des Teams, sehen die Aufgaben für die Linebacker in einer 4-3-Defense plötzlich ganz anders aus.

So dürfte Ahmad Brooks als Strongside-Linebacker häufig an der Line of Scrimmage zu finden sein. Bowman, der nach überstandenem Achillessehnenriss wieder voll trainieren darf, wird wohl der Middle-Linebacker-Posten gehören. Hier aber passt auch Foster rein, sollen beide gleichzeitig auf dem Platz stehen, wird einer den Weakside-Linebacker geben müssen, der häufig vor allem mit Coverage-Aufgaben betraut wird. Neuzugang Malcolm Smith passt hier jedoch besser als Bowman und Foster.

Absolut essentiell für die Defense wird aber die Besetzung des Free-Safety-Platzes sein. Die Verletzung von Seattles Earl Thomas im Vorjahr zeigte, wie entscheidend der im tiefen Zentrum des Feldes postierte Safety für das Gelingen der Cover-3-Defense ist. Er muss über seine Explosivität und sein Spielverständnis die Reichweite haben, um lange Pässe über die Mitte verhindern und den beiden Cornerbacks helfen zu können. Dieser kritische Posten kommt Jimmie Ward zu. Es ist eine Position, die Ward seit seinem letzten College-Jahr nicht mehr gespielt hat.

Im Umkehrschluss übernimmt Eric Reid aller Voraussicht nach den Strong-Safety-Platz, also das Äquivalent zu Seattles Kam Chancellor. "Ich freue mich unglaublich darauf", kündigte der bereits an. "Ich bin so näher dran am Geschehen und kann hoffentlich mehr beitragen. Ich glaube, dass ich für diese Position gemacht wurde."

Wird aus Frust und Optimismus Realität?

Klar ist schon jetzt: Die ersten Eindrücke im Training waren vielversprechend. "Offenbar können wir den Ball gegen unsere Defense weder laufen noch werfen", gab Receiver Pierre Garcon zu. "Das ist schon frustrierend. Aber es ist auch Teil der Offseason. Da muss man durch."

Es liegt an der Defense, dafür zu sorgen, dass sich dieser Frust auch auf gegnerische Offenses ab September überträgt. Denn nach mehreren Jahren mit wenigen Erfolgserlebnissen gibt es wieder Grund für Optimismus in San Francisco - dank eines vielversprechenden Defense-Kerns um Buckner, Thomas, Bowman, Armstead und Foster. Gelingt es diesem Kern, die defensive Umstellung auf den Platz zu bringen, könnte sich Buckners Optimismus tatsächlich bewahrheiten.

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