NBA

The Art of Smart

Von Henning Kuhl
Marcus Smart wurde an sechster Stelle von den Boston Celtics gedraftet

Hinter einigen NBA-Spielern steckt eine bewegende Geschichte, doch kaum eine ist so speziell wie die von Marcus Smart. Denn der 20-jährige Rookie ist dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen - und nun der neue Hoffnungsträger der traditionsreichen Boston Celtics.

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Es ist Nacht in Lancaster, Texas. Zwei Jungs sitzen im zweiten Stock eines Hauses am Fenster. Ihre Taschen sind gefüllt mit Steinen, die sie auf Passanten werfen - wie in vielen Nächten zuvor. Als ein Radfahrer vorbeifährt, trifft ihn einer der beiden Teenager, der Mann stürzt. Während die beiden den Volltreffer feiern, wird es laut im Treppenhaus. Der Radfahrer stürmt brüllend auf sie zu. Sie fliehen aus dem Fenster, laufen in den Wald, der Unbekannte, ein Gang-Mitglied, hinterher - mit Pistole und "I'll kill you!" brüllend. Vier Schüsse fallen, die Jungs laufen um ihr Leben ...

Was wie eine Szene eines durchgedrehten Hollywoodstreifens klingt, ist leider Realität. Der Junge, der den Stein warf, heißt Marcus Smart. Jene Nacht verändert sein Leben komplett!

Harte Kindheit

Als Marcus zehn ist, erliegt Todd, einer seiner drei Brüder, dem Krebs. Seit seinem 15. Lebensjahr hatte der talentierte Basketballer gegen die tückische Krankheit gekämpft, war für seine Brüder Vorbild und Mentor zugleich - speziell für Marcus. "Todds Einstellung und Wille haben mich geprägt", erinnert sich der 1,93-Meter-Mann und betont: "Meine Brüder und meine Mutter sind meine absoluten Helden!"

Doch nach Todds Tod verändert sich alles: Bruder Michael handelt mit Drogen, verfällt dem Kokain, trägt Schusswaffen, landet nach einer Überdosis im Krankenhaus. Als Marcus seinen zweiten Bruder um sein Leben kämpfen sieht, explodiert er. Knapp ein Jahr nach Todds Tod droht der nächste Verlust. Marcus ist verzweifelt und leer. "Ich habe den schlimmsten Schmerz gefühlt, den man sich vorstellen kann", sagt er.

Michael überlebt, doch für Marcus gibt es kein Halten mehr: Gewalt ist sein Ventil gegen den Schmerz. Regelmäßig ist er in Schlägereien verwickelt, klaut, findet keine Ruhe, kriminelle Taten häufen sich - bis zu jener Nacht. Denn im Wald können die Jungs den Verfolger abhängen. Als er seiner Mutter vom Vorfall berichtet, trifft sie eine weitreichende Entscheidung, die Marcus rettet: Die Smarts ziehen nach Flower Mound, einem sicheren Vorort von Dallas, in dem Marcus seine düstere Vergangenheit hinter sich lassen kann. Zudem nimmt er Anger-Management-Kurse. "Von da an war er wie neugeboren", erinnert sich seine Mum. Der Filius selbst sagt: "Ich hatte meine Lektion gelernt und verstanden, worum es geht!"

Sport als Schmerzventil

Fortan steckt Marcus seine Energie in den Sport und beackert das Footballfeld, vor allem aber das Basketballparkett. Gemeinsam mit Michael trainiert er verbissen und hart, spielt überragend an der Highschool und räumt diverse Auszeichnungen ab. Ihm geht es aber um etwas anderes, wie er betont: "Ich will, dass die Leute gut über mich reden, weil ich meine Familie repräsentiere!" Regelmäßig studiert er Videos von NBA-Profis und wird durch seinen Willen immer besser. 2012 wechselt er ans College.

An der Oklahoma State entwickelt sich der bullige Aufbau zum Leader und zu einem der besten Allround-Guards der NCAA. "Er spielt einfach mit mehr Einsatz als alle anderen", sagt sein langjähriger Freund Phil Forte. Diese Einstellung bewegt Celtics-GM Danny Ainge dazu, Marcus an sechster Stelle zu draften. "Wir brauchen Jungs, die leidenschaftlich und mit viel Einsatz spielen, so die Kollegen mitreißen."

Einer dieser Jungs ist Marcus Smart. Er soll speziell mit Rajon Rondo harmonieren und vom viermaligen All Star lernen. "Er kann sich an Rajons Seite perfekt entwickeln", ist Coach Brad Stevens sicher. Smart kann auf beiden Guard-Positionen spielen, hat mit Rondo, Avery Bradley und Evan Turner aber harte Konkurrenz. Die Quadriga bildet einen der talentiertesten Backcourts der Liga, der Bostons Offense (96,2 PPS, NBA-Rang 26) beleben soll. Die Macher setzen aber nicht auf schnelle Besserung, sondern planen langfristig. Sie wollen die neuen Celtics um ihren 100-Kilo-Rookie aufbauen, der der neue Franchise-Player werden soll - und ihre Lebensversicherung für den Fall, dass der zuweilen etwas divenhafte Rondo wegwill.

Gut, dass Marcus Smart in jener Nacht entkommen ist - und wieder auf den rechten Weg gefunden hat.

Der Artikel erscheint in der BASKET 11/2014

Marcus Smart im Steckbrief