Ein Plädoyer für die Bremse

Von SPOX
Luis Suarez sorgte im Spiel gegen Italien für Aufsehen
© getty

Luis Suarez sorgte bei der Weltmeisterschaft 2014 einmal mehr für Aufsehen. Sein Biss gegen Giorgio Chiellini bleibt in den Köpfen. Was folgte, glich aber einer Treibjagd mit einem zweifelhaften Höhepunkt durch die FIFA.

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Er wusste es sofort selbst. Noch im Fallen griff sich Suarez ins Gesicht und wälzte sich über den Boden. Er wusste es ganz genau: Er hatte soeben eine Tätlichkeit begangen, seinen Gegenspieler gebissen und sich eine lange Strafe eingehandelt. Schon wieder, schon zum dritten Mal.

Es fällt schwer, das Verhalten von Luis Suarez auf dem Platz zu rechtfertigen oder zu verteidigen. Der Stürmer ist ein Ekelpaket, sobald er den Platz betritt. Sein vernünftiger Menschenverstand scheint mit dem ersten Schritt aus den Katakomben ausgeschaltet zu werden, es gibt nur noch den Ball und ein Spiel, das er unbedingt gewinnen will.

Diese Einstellung war dem FC Barcelona über 80 Millionen Euro wert. Suarez ist ein Spieler, nach dem sich Trainer ihre Finger lecken. Bedingungsloser Einsatz. Er beschreibt sich selbst als jemanden, der eines Tages beim Versuch, in der 90. Minute einen Einwurf zu verhindern, umkommen wird. Kompromisslos, hart und mit dem unbedingten Siegeswillen hat er sich zu einem der besten Stürmer der Welt entwickelt.

"Bannt dieses Monster"

Allerdings überschreitet er in einer unguten Regelmäßigkeit Grenzen. Grenzen, die im Geschäft Profi-Fußball ohnehin schon sehr locker ausgelegt werden. "Ich wusste es sofort, als es passiert war", gab Suarez nach dem Spiel gegen Italien im "Guardian" zu: "Ich habe sie im Stich gelassen. Ich konnte meinen Teamkameraden nicht in die Augen sehen, ich wusste nicht, wie ich mich entschuldigen sollte."

Er hatte zum dritten Mal in seiner Karriere einen Gegenspieler gebissen. Der Schiedsrichter übersah es, die Öffentlichkeit nicht. Nicht jeder hatte seine Worte so im Griff, wie Cesare Prandelli, der vergleichsweise schlicht feststellte: "Es ist eine Schande." Suarez wird die Anfeindungen von italienischer Seite weggesteckt haben, Worte haben nicht viel Gewicht in einem Spiel, in dem Emotionen ständig Überhand nehmen.

Was bleibt, ist das Internet. Die Medien, die eine richtiggehende Treibjagd lostraten. Das Netz vergisst nicht, in zehn Jahren, in 20 und in 30 Jahren nicht. "Bannt dieses Monster", fordert der "Telegraph", "Macht Suarez endlich zum Ausgestoßenen" schloss sich die "Daily Mail" an. Als Kannibale und Vampir hatte er nach seinem Biss gegen Branislav Ivanovic ohnehin schon seinen Ruf weg.

Die Ruhe nach dem Sturm

Wofür die Medien einige Zeit brauchten, war Twitter und Facebook schon in wenigen Sekunden gelungen. Eine nicht mehr aus der Welt zu schaffende Flut an Bildern, Sprüchen, Witzen - manche gezügelter als andere, manche jenseits von Gut und Böse.

Dass es immer noch um einen Menschen geht, einen Menschen, der seinen Kindern erklären muss, was geschehen ist, einem Menschen, der sich später entschuldigte und nicht erst seit diesem Fall in psychotherapeutischer Behandlung ist, daran dachte in diesem Moment niemand.

Mit ein paar Monaten Abstand bleibt ein bitterer Nachgeschmack. So lustig man es doch alles im ersten Moment fand, blättert man nun durch Twitter-Seiten und zahlreiche Artikel und schweigt in sich hinein. Die Ruhe nach dem Sturm ist fast ein bisschen peinlich.

Aktualität vor Inhalt

Es ist ein Abbild der modernen Gesellschaft und Medienlandschaft. Es geht schnell, von einem Extrem ins Andere, keine Bremse, keine Nachbetrachtung mit zeitlichem Abstand. Neben der Exklusivität bestimmt vor allem die Aktualität die Aufmerksamkeit, dementsprechend wenig wird gefiltert und wohlüberlegt auf die Wege gebracht.

All das geht auf Kosten Einzelner. Der Einfluss der Medien ist größer und größer geworden. Auch die FIFA gab dem enormen Druck der Öffentlichkeit nach und verhängte eine drakonische Strafe. Vier Monate Sperre hieß es für Suarez, dazu eine hohe Geldstrafe. Das Besondere: Dem Stürmer war für die gesamte Zeit der Strafe keine Form von Fußball erlaubt, nicht als Zuschauer, nicht als Spieler.

"Sie behandelten mich schlimmer als einen Kriminellen. Du kannst einen Spieler bestrafen, du kannst ihm sperren aber du kannst ihm nicht verbieten, bei seinen Teamkameraden zu sein", stellt Suarez in seiner Biographie fest. Trainer Oscar Tabarez sprach von der "schwersten Nachricht", die er "je einem Spieler überbringen" musste.

Auf und neben dem Platz

Suarez ist Wiederholungstäter, er hat selbst Schuld an seinem Ruf. Doch es gilt irgendwo einen Trennstrich zu ziehen zwischen dem, was er auf dem Platz ist und was er neben dem Platz ist. Er sollte für seine Vergehen auf dem Platz auch auf dem Platz bestraft werden, neben dem Platz hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen.

"Ich glaube, die Leute, die wirklich wissen, wer Luis ist, sind die, die schon immer an meiner Seite waren. Ich habe schon immer gesagt, dass der Luis auf dem Platz nicht der Luis neben dem Platz ist", erklärte er gegenüber dem "Guardian." Er spricht von sich selbst in der dritten Person, als müsse er sich von dem distanzieren, was geschehen ist.

"Ich habe mich selbst enttäuscht"

"Ich habe mich selbst enttäuscht, ich habe meine Frau enttäuscht, ich habe meine Kinder enttäuscht. Wenn das passiert, ist das wichtigste, dass man akzeptiert, was man getan hat und sich entschuldigt", schließt Suarez. Seit dem Zwischenfall mit Ivanovic befindet er sich unregelmäßig in Betreuung. Eine Tatsache, die ihm nur bedingt gefällt.

Suarez gibt offen zu, Angst zu haben. Davor, durch die Therapie seine einzigartige Einstellung und seinen Siegeswillen zu verlieren. Nicht mehr alles zu geben: "Was ist, wenn es mich zu ruhig macht? Wenn ein Ball an mir vorbeigeht und ich ihn einfach ziehen lasse, anstatt hinterherzujagen?" Den Grund für seine Blackouts kennt er selbst: "Ich bin irritiert wenn mich ein Verteidiger schubst, ich bin irritiert, wenn ich eine Chance liegen lassen. Wenn meine ersten Ballkontakte nicht sitzen, frage ich mich: Was ist los mit dir heute?"

Erklären oder gar rechtfertigen soll das nicht. Jedes der Fouls ist passiert, jeder Biss wurde von zahlreichen Kameras aufgefangen. Dass er Patrice Evra "Negro" nannte, gibt Suarez offen zu, ebenso wie den Zwischenfall, als er als 14-Jähriger einen Schiedsrichter mit einem Kopfstoß attackierte. Für jedes seiner Vergehen wurde er bestraft, allerdings nie nur aus sportlicher Hinsicht. Er reiht sich ein in einen Haufen an Aussetzern, die die Geschichte schon hervorgebracht hat, sticht aber aufgrund der Menge heraus.

Warum?

Die Frage der Interpretation bleibt zurück. Warum? Warum beißt jemand seinen Gegenspieler und das auch noch mehrfach? Die Medien fanden darin ihren nächsten Aufhänger, luden Experten und Psychotherapeuten ein, die sich um eine Ferndiagnose bemühten. Suarez selbst versucht eine Erklärung zu geben.

"Der Adrealin-Level ist so hoch im Spiel, der Puls rast und manchmal kommt das Hirn einfach nicht mehr mit. Der Druck staut sich auf und es gibt kein Ventil, um ihn rauszulassen. Ich war frustriert, weil wir in einem wichtigen Spiel nur Unentschieden spielten. Wir hatten einen schlechten Lauf und ich wollte alles dafür tun, dass er vorbei geht, aber es fühlte sich an, als ob ich alles falsch machen würde. Ich konnte fühlen, wie mir alles durch die Finger glitt."

Ein kurzer Panik-Moment, in dem er die Kontrolle verliert. Dass das anderen Spielern auch passiert - nicht in dieser Form - ist bekannt. Seine Äußerungen und sein Verhalten direkt nach dem Spiel sprechen eine andere Sprache. Die des Spielers, der alles dafür getan hätte, zumindest die verbleibenden Spiele der Weltmeisterschaft zu spielen. Ein Spieler, der Angst davor hatte, schon wieder zu enttäuschen, sein Land im Stich zu lassen und in seiner selbst verschuldeten Not jeden Strohhalm griff, um sich doch noch zu retten.

Luis Suarez im Steckbrief