Am Samstag startet die deutsche Handball-Nationalmannschaft mit der Partie gegen Europameister Spanien (9.15 Uhr im LIVETICKER) in die Olympischen Spiele in Tokio. Welche Stärken und Schwächen hat die Auswahl von Bundestrainer Alfred Gislason? SPOX nimmt den DHB-Kader unter die Lupe.
Gislason durfte für die Jagd auf eine Medaille einen Stammkader von 14 Spielern plus einen sogenannten "P-Athleten" nominieren. Der "P-Athlet" - im Falle Deutschlands Jannik Kohlbacher - wohnt mit dem Team im Olympischen Dorf und darf jederzeit in den Kader berufen werden, gehört aber vorerst nicht zum Stammkader.
Außerdem durften zwei weitere Ersatzspieler nominiert werden, die in einem Hotel außerhalb wohnen müssen und nur im Falle einer Verletzung in den Stammkader rücken dürfen. Diese Rolle fällt Silvio Heinevetter und Tobias Reichmann zu.
Mit Reichmann, Andreas Wolff, Uwe Gensheimer, Steffen Weinhold, Kai Häfner, Julius Kühn, Finn Lemke, Hendrik Pekeler, Paul Drux und Heinevetter stehen zehn Akteure im Aufgebot, die bereits bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro das DHB-Trikot trugen.
Die Mannschaft nimmt übrigens dieses Mal nicht an der Eröffnungsfeier teil. "Auf diesen besonderen Moment in Tokio werden wir mit Blick auf unsere sportliche Aufgabe bewusst verzichten", erklärte Kapitän Gensheimer.
Tor
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Andreas Wolff | KS Vive Kielce | 111 | 13 |
Johannes Bitter | HSV Hamburg | 164 | 1 |
Silvio Heinevetter | MT Melsungen | 204 | 3 |
Gislason vertraut zwischen den Pfosten dem gleichen Trio wie bei der WM im Januar. Anders als in Ägypten hat sich der Bundestrainer diesmal allerdings nicht auf Wolff als klare Nummer eins festgelegt. "Ich kann nicht sagen, dass er Nummer eins und der andere Nummer zwei ist", sagte der Isländer.
Der Grund liegt auf der Hand: Wolff, der im vergangenen Monat seinen Vertrag in Kielce vorzeitig bis 2028 verlängert hat, war bei der WM in den entscheidenden Momenten nahezu ein Totalausfall. Genau genommen spielte der 30-Jährige seit dem EM-Triumph 2016 kein vollends überzeugendes Turnier im DHB-Trikot mehr.
Bitter, der zur anstehenden Saison von Stuttgart zum HBL-Aufsteiger nach Hamburg wechselt, war in Ägypten der klar beste deutsche Torhüter, ohne dabei Bäume auszureißen. Immerhin: Sowohl Wolff als auch Bitter hinterließen zuletzt einen guten Eindruck.
Heinevetter ist derweil nur als Ersatzmann dabei. Er ist neben seinem Melsunger Mannschaftskollegen Reichmann einer von zwei DHB-Spielern, die nicht im Olympischen Dorf, sondern in einem Hotel außerhalb wohnen müssen. "Heine" wird somit wohl lediglich zum Einsatz kommen, falls sich Wolff oder Bitter verletzen sollten.
Fazit: Auf dem Papier ist Deutschland im Tor hervorragend besetzt. Um den Traum von einer Medaille - womöglich sogar von Gold - zu realisieren, müssen Wolff und Bitter als Duo ihre Performance im Vergleich zur WM allerdings deutlich steigern.
Linksaußen
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Uwe Gensheimer | Rhein-Neckar Löwen | 198 | 962 |
Marcel Schiller | Frisch Auf Göppingen | 22 | 103 |
Gefühlt hat Schiller mittlerweile im Rennen mit Kapitän Gensheimer die Nase vorn. Der 29-Jährige spielte eine starke WM, sicherte dem DHB-Team in der Olympia-Quali mit seinem Treffer in letzter Sekunde das so wichtige Remis gegen Schweden und war mit 270 Toren (120 Siebenmeter) nach Magdeburgs Omar Ingi Magnusson (274) der zweitbeste Torschütze der vergangenen Bundesliga-Saison.
Gensheimer, der in der abgelaufenen HBL-Saison 163 Tore (69 Siebenmeter) erzielte, enttäuschte derweil beim Turnier in Nordafrika und zog einmal mehr den Zorn seiner Kritiker auf sich. Es wird Zeit, dass der "Capitano" mal wieder im DHB-Trikot überzeugt. Ein gutes Omen könnte die Olympia-Erinnerung sein. 2016 beim Gewinn der Bronzemedaille in Rio de Janeiro spielte der mittlerweile 34-Jährige ein herausragendes Turnier.
Fazit: Kommen Gensheimer und Schiller an ihre Normalform heran, ist die Linksaußen-Position eine komplett sorgenfreie Zone. Gislason muss sich dann auf keine Nummer eins festlegen und kann munter durchwechseln. Nicht zu unterschätzen: Mindestens einer der beiden Linksaußen muss sich auch in Tokio als bombensicherer Siebenmeterschütze erweisen.
Rückraum links
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Julius Kühn | MT Melsungen | 79 | 252 |
Paul Drux | Füchse Berlin | 102 | 190 |
Finn Lemke | MT Melsungen | 83 | 31 |
Auch im linken Rückraum ließ sich Gislason bei den beiden finalen Olympia-Tests gegen Brasilien (36:26) und Ägypten (29:27) nicht zu tief in die Karten blicken. Einmal stand der ganz frisch verheiratete Kühn in der Anfangsformation, einmal Drux.
Dennoch darf man davon ausgehen, dass Kühn zumindest zu Beginn bevorzugt wird, um hoffentlich schnell Selbstvertrauen aufbauen zu können. Der Zwei-Meter-Riese mit dem gewaltigen Wurf war in der abgelaufenen HBL-Saison mit durchschnittlich 5,5 Treffern pro Partie bester Melsunger Torjäger und nach Schiller zweittreffsicherster deutscher Spieler. Allerdings spielte Kühn eine maue WM. Sein altbekanntes Manko: Er tut sich schwer, eigene Abschlüsse zu kreieren.
Drux wurde in der vergangenen Spielzeit durch eine Knieoperation im März zurückgeworfen. In 32 Spielen traf er lediglich 72 Mal. Trotzdem ist der Füchse-Kapitän ein enorm wichtiger Spieler für die deutsche Auswahl. In Ägypten funktionierte das Angriffsspiel immer dann, wenn er gemeinsam mit Kai Häfner und Philipp Weber die Rückraumachse bildete. Außerdem ist Drux in der Deckung unverzichtbar. Lemke wird ausschließlich in der Abwehr zum Einsatz kommen.
Fazit: Bei Drux und vor allem bei Kühn fehlte es in der Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren an Konstanz. Da anders als bei der vergangenen WM nur zwei statt vier linke Rückraumspieler (Fabian Böhm und Lukas Stutzke wurden nicht nominiert) im Kader stehen, müssen eigentlich zwingend beide auf hohem Niveau agieren.
Rückraum Mitte
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Philipp Weber | SC Magdeburg | 46 | 113 |
Juri Knorr | Rhein-Neckar Löwen | 13 | 16 |
Seit Gislason von Christian Prokop übernommen hat, genießt Weber das uneingeschränkte Vertrauen auf der Spielmacherposition. Er ist so etwas wie Gislasons Liebling. Der 28-Jährige, der zur kommenden Saison von Leipzig nach Magdeburg wechselt, dankte es dem Bundestrainer mit starken Leistungen bei der WM. Er überzeugte mit starken Einzelaktionen, guten Anspielen und als Denker und Lenker.
Seine Wadenprobleme aus der Vorbereitung scheinen auskuriert zu sein, in der abgelaufenen HBL-Spielzeit überzeugte er mit 135 Toren und 112 Assists in 37 Spielen. "Weber hat sich in den letzten zwei Jahren in der Nationalmannschaft kontinuierlich gesteigert. Er ist ein extrem wichtiger Spieler für uns und hat alle Qualitäten, die ein Weltklasse-Spielmacher haben muss", lobte Gislason.
Als Backup steht Knorr bereit, der beim Auftaktspiel gegen Spanien mit 21 Jahren und 76 Tagen Jochen Fraatz (21 Jahre und 78 Tage) als jüngsten deutschen Olympia-Handballer ablösen wird. Der gebürtige Flensburger, der im Sommer von Minden zu den Löwen wechselt, zeigte bei der WM bereits sein enormes Talent, bezahlte gleichzeitig aber auch noch viel Lehrgeld. Seine HBL-Ausbeute: 4,6 Tore und 2,4 Assists pro Spiel.
Fazit: Weber kann und muss an seine WM-Leistungen anknüpfen. Sollte ihm das nicht gelingen, wäre es für das DHB-Team quasi unmöglich, die gesteckten Ziele zu erreichen. Er ist im Angriff der Schlüssel zur erhofften Medaille.
Rückraum rechts
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Kai Häfner | MT Melsungen | 106 | 228 |
Steffen Weinhold | THW Kiel | 131 | 313 |
Wie schon bei der WM fehlt Fabian Wiede wegen anhaltender Schulterprobleme auch bei Olympia. Das ist doppelt bitter, weil der Mann der Füchse Berlin auch eine Option auf Rückraum Mitte gewesen wäre.
Glücklicherweise ist Weinhold nach seinem freiwilligen WM-Verzicht wieder an Bord, der mit seiner Erfahrung und seinen kompromisslosen Einzelaktionen enorm wichtig und auch in der Abwehr ein Faktor sein wird. Mit dem THW holte der 35-Jährige im Dezember die Champions League und wurde zuletzt Meister.
Auch von Häfner darf einiges erwartet werden. Der Schwabe fiel bei der WM durch seinen Mut im Angriffsspiel positiv auf und war außerdem mit 15 Assists bester deutscher Vorlagengeber. Auch die Statistiken in der HBL können sich sehen lassen: 3,7 Assists und 4,6 Tore pro Partie.
Fazit: Häfner und Weinhold dürften gleichmäßig zum Einsatz kommen. Beide sind in der Lage, dem Rückraum im Verbund mit Weber und Drux Schwung zu verleihen und somit Löcher in der gegnerischen Deckung zu reißen. Läuft alles normal, ist das DHB-Team im rechten Rückraum also trotz des Wiede-Ausfalls gut aufgestellt.
Rechtsaußen
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Tobias Reichmann | MT Melsungen | 100 | 313 |
Timo Kastening | MT Melsungen | 30 | 98 |
Da Reichmann nur als Ersatzmann nominiert wurde, wird es auf Rechtsaußen eine reine One-Man-Show geben. "Es ist nicht selbstverständlich, mit 26 Jahren als einziger Spieler auf der Position in ein so großes Turnier zu starten. Ich sehe das als großen Vertrauensvorschuss von Alfred Gislason. Den möchte ich bestätigen", sagte der DHB-Kabinen-DJ.
Kastening, der zum dritten Mal in Folge bei einem Großevent zum DHB-Aufgebot zählt, war mit 20 Toren bester deutscher WM-Werfer und mit 194 Treffern zwölftbester HBL-Torschütze.
Sollte Reichmann, der sich in Ägypten gleich im ersten Spiel am Knie verletzte und abreisen musste, im Verlaufe des Turniers nachrücken, wäre auch er eine mehr als solide Alternative.
Fazit: Dass nur ein Rechtsaußen im festen Aufgebot steht, ist normalerweise kein großes Problem. Kastening hat bereits mehrfach seine Qualitäten als Dauerbrenner nachgewiesen. Allerdings darf er in Sachen Chancenverwertung keinesfalls erneut so schlampig wie bei der WM agieren.
Kreis
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Johannes Golla | SG Flensburg-Handewitt | 25 | 65 |
Hendrik Pekeler | THW Kiel | 116 | 201 |
Jannik Kohlbacher | Rhein-Neckar Löwen | 78 | 164 |
Obwohl Patrick Wiencek (THW Kiel) nach überstandenem Wadenbeinbruch noch nicht fit genug für Olympia ist, hat das DHB-Team am Kreis im Vergleich zur WM (Johannes Golla, Sebastian Firnhaber und Moritz Preuss) ein deutliches Upgrade erhalten.
Da Kohlbacher als 15. Mann zwar im Olympischen Dorf wohnt und theoretisch jederzeit in den Kader berufen werden kann, aber eben vorerst nicht zum Stammaufgebot zählt, werden sich Golla und Pekeler die Rolle im Angriff teilen.
Pekelers Qualitäten sind ohnehin seit Jahren auf allerhöchstem Niveau anzusiedeln und Gollas Entwicklung ist mehr als bemerkenswert. Der 23-Jährige überzeugte bei der WM (16 Tore) und in der Bundesliga (140 Tore) und hat sich damit in Angriff und Abwehr zu einem Mann für alle Fälle gemausert.
Fazit: Mit Golla, Pekeler und Ersatzmann Kohlbacher ist die deutsche Auswahl am Kreis erstklassig besetzt. Für Gislason wird es darum gehen, bei Golla und Pekeler eine vernünftige Balance zwischen den Einsatzzeiten im Mittelblock und im Angriff hinzubekommen.
Mittelblock
Name | Verein | Länderspiele | Tore |
Johannes Golla | SG Flensburg-Handewitt | 25 | 65 |
Hendrik Pekeler | THW Kiel | 116 | 201 |
Finn Lemke | MT Melsungen | 83 | 31 |
Durch Wienceks Ausfall wird der wahrscheinlich beste Mittelblock der Welt mit ihm und Pekeler gesprengt. Golla und Pekeler werden diese Rolle übernehmen und sind - aufgrund ihrer Rollen im Angriff - auf die Entlastung durch Lemke angewiesen.
Der Bremer ist erstmals seit der Heim-WM 2019 wieder bei einem Großturnier im DHB-Aufgebot vertreten, hat seine Klasse aber bereits mehrfach nachgewiesen. Beim EM-Triumph in Polen 2016 bildete er gemeinsam mit Pekeler einen brutalen, absolut sicheren Mittelblock und war damit der Zerstörer unter den Bad Boys.
Fazit: Auch der Mittelblock ist deutlich stärker als bei der WM in Ägypten besetzt. Dass Pekeler und Golla im Zusammenspiel mit den Torhütern funktionieren, ist die Basis. Doch auch Lemkes Rolle ist nicht zu unterschätzen. Der 2,10-Meter-Riese muss ein zuverlässiger Backup sein.
Schlussfazit
Deutschland ist auf keiner Position schlechter, dafür auf vielen besser als beim enttäuschenden 12. Platz bei der WM in Ägypten besetzt. Neben Spielmacher Weber werden wie so oft die Torhüterleistungen im Verbund mit dem Mittelblock darüber entscheiden, ob eine Medaille möglich ist oder nicht.
Angesichts der harten Gegner wird es ebenfalls darauf ankommen, dass die Gislason-Truppe den positiven Trend von der WM und der Olympia-Quali im Rückraum in Sachen Beweglichkeit und Flexibilität fortsetzen kann. Der Einzug ins Viertelfinale ist Pflicht. Sollten aber alle Faktoren zusammenkommen, ist der deutschen Mannschaft jede Medaille zuzutrauen.
Handball: Der DHB-Spielplan
Datum | Uhrzeit | Team 1 | Team 2 |
Sa., 24. Juli | 9.15 Uhr | Deutschland | Spanien |
Mo., 26. Juli | 4.00 Uhr | Deutschland | Argentinien |
Mi., 28. Juli | 14.30 Uhr | Deutschland | Frankreich |
Fr., 30. Juli | 14.30 Uhr | Deutschland | Norwegen |
So., 1. August | 12.30 Uhr | Deutschland | Brasilien |
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