"Ich habe den magischen Punkt erreicht"

Von Interview: Christoph Köckeis
Gregor Schlierenzauer fasst nach zwei Tournee-Triumphen die Olympia-Goldene ins Auge
© getty

Einst flog er im Teenager-Alter in die Skisprung-Elite. Schon damals herrschte Einigkeit: Gregor Schlierenzauer wird den Sport dauerhaft prägen. Sieben Jahre später ist er eine Legende. 48 Weltcup-Erfolge machen ihn zum Besten aller Zeiten - mit gerade einmal 23. Im SPOX-Interview spricht Österreichs Wunderadler über Zahlen, Besessenheit, Arroganz und den nächsten Meilenstein.

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SPOX: Gregor, in einem Interview 2007 mutmaßten Sie, dass Ihnen womöglich das Draufgängertum fehle. Wie lässt sich das mit dem risikobehafteten Skispringen vereinbaren?

Gregor Schlierenzauer: (lacht) Ich wollte damals ausdrücken, dass ich keiner bin, der sofort beim ersten Mal volles Programm geht. Bei Übungen oder Schanzen taste ich mich heran. Ich lasse das auf mich zukommen, gehe Schritt für Schritt. Alles auf einmal - so etwas funktioniert nicht.

SPOX: Angesichts Ihrer Bilderbuch-Karriere schwer zu glauben: In Harrachov verdrängten Sie den finnischen Skandal-Boy Matti Nykänen endgültig aus den Geschichtsbüchern. Welche Bedeutung hatte die Zahl 47?

Schlierenzauer: Sie ist stets in meinem Kopf. Egal, wo ich die 47 sehe - ob im Hotel oder auf dem Trikot - sie erinnert mich daran, was mir gelang. Ich habe den magischen Punkt erreicht, die 46 Erfolge von Matti Nykänen übertroffen. Das ist im Skisprung-Sport noch nie dagewesen. Für mich war es das Größte. Jetzt darf ich mich offiziell Legende nennen, das klingt schon extrem alt. Alles was jetzt noch kommt, ist gewissermaßen für mein Foto-Album. Ich genieße momentan mein Leben.

SPOX: Sven Hannawald traut Ihnen 60 bis 70 Siege zu. Sie können einen Rekord für die Ewigkeit aufstellen. Inwiefern beschäftigen Sie sich damit?

Schlierenzauer: Es ist Antrieb für mich, weiterzumachen. Rekorde kann man aber nicht planen, das muss passieren. Dafür braucht man Geduld und großes Glück. Wenn sie verwirklicht werden, ist das die beste Motivation für die Zukunft. Diese Erfolge sind die Bestätigung, dass die eingeschlagene Richtung stimmt.

SPOX: Salopp gefragt: Was macht Sie derart stark?

Schlierenzauer: Das sind viele kleine Puzzleteile, die es ausmachen. Die körperlichen Veranlagungen, Talent, Glück, Material, Fitness oder das Umfeld. Ohne gewisse Personen hätte ich es nie nach oben geschafft, würde ich heute nicht hier stehen. Ich habe mir ein professionelles Umfeld geschaffen, das mir immer wieder hilft, das Beste herauszuholen.

SPOX: Jemanden, den Sie besonders hervorheben möchten?

Schlierenzauer: In den Jugendjahren: Markus Maurberger. Er betreute mich bereits als Kind, ist jetzt wieder mein Stützpunkt-Trainer. Skisprung-technisch hat er mich geprägt. Aber nur einen Trainer zu haben, reicht nicht aus, um es nach oben zu schaffen.

SPOX: DSV-Bundestrainer Werner Schuster meinte, Sie hörten nie auf, das Umfeld zu optimieren: Onkel Markus Prock steht seitjeher als Manager zur Seite. Er war selbst erfolgreicher Rennrodler - wie konnte er Sie mit seiner Erfahrung unterstützen?

Schlierenzauer: Einen ehemaligen Spitzensportler im engsten Kreis zu haben, war äußerst hilfreich. Er hat mich darauf vorbereitet, was mich im Profi-Bereich erwartet, weiß genau, wovon er spricht. Wenn jemand aus der Familie das Management übernimmt, steht das auf einer ganz anderen Basis.

SPOX: Mit 16 Jahren gewannen Sie das erste Weltcup-Springen, der Trubel war riesig. Kam Ihnen dadurch nicht ein Teil ihrer Kindheit abhanden?

Schlierenzauer: Überhaupt nicht! Klar, hat man als Teenager durchaus andere Dinge im Kopf, als stets am Skispringen zu feilen. Glücklicherweise war ich aber sportbesessen. Der Traum vom Fliegen, das Gefühl in der Luft faszinierte mich. Es ist eine Sucht. Mir war wichtig, die Nummer eins zu werden. Dem habe ich alles untergeordnet. In schwierigen Zeiten, wenn man trainiert, ohne das Resultat sofort zu spüren, denkt man darüber nach, sich anderen Dingen zu widmen. Damals war ich schon eine öffentliche Person. Während andere etwas ausprobierten, hatte ich eine Vorbildfunktion.

SPOX: Vom medialen Ansturm war es wohl die schwierigste Phase.

Schlierenzauer: Wenn man als 16-Jähriger in den Weltcup-Zirkus kommt, gleich von Null auf Hundert startet, ist die Aufmerksamkeit völliges Neuland. Ich wusste damit nicht immer richtig umzugehen, war noch ein Kind. Jeder hat sich mit mir beschäftigt und wollte etwas von mir. Auf mir lastet sehr viel Druck. Da waren Situationen dabei, die mir alles abgefordert haben und die nicht jeder meistern kann.

SPOX: Früher hatte man das Gefühl, Sie würden 24 Stunden über den Sport nachdenken und sich manchmal selbst blockieren. Mittlerweile wirken Sie lockerer, erwachsener. Woran liegt das?

Schlierenzauer: Ich würde behaupten, dass ich in der Analyse sehr gut bin. Wenn es nicht läuft, ist die Ursachenforschung entscheidend. Ich habe viele Springen über Nacht gewonnen, obwohl ich zuvor im Training manchmal Aufholbedarf hatte. Es ist eine Stärke von mir, zu erkennen, wo der Fehler liegt und dort versuchen, den Hebel anzusetzen und die Weichen zu stellen. Dennoch darf man nicht übertreiben, das stimmt. Diese Zeiten gab es. Zu viel Grübeln raubt die Lockerheit. Da muss der Mittelweg gefunden werden.

SPOX: Inwiefern war das ein Lernprozess, sich den Abstand zu verordnen?

Schlierenzauer: Grundsätzlich denke ich: Die herausragenden Athleten sind besessen. Sie denken 24 Stunden nach, was sie besser machen könnten. Nichtdestotrotz bleibt es ein ewiger Prozess. Durch Erfahrungen lernt man. Wenn man zu akribisch an Dinge herangeht, zu viel hineininterpretiert, kann der Schuss nach hinten losgehen. Man darf aber nie faul sein und muss die Augen offen halten, da die Konkurrenz nicht schläft.

SPOX: Wann können Sie der Öffentlichkeit entfliehen?

Schlierenzauer: Ich habe mir bewusst Hobbys gesucht. Beim Designen meiner Modelinie oder dem Fotografieren kann ich abschalten und die Kreativität ausleben. Zudem genieße ich es, in den eigenen vier Wänden zu sein. Bei meiner Familie bin ich der normale Gregor. Ohne Interviews, ohne ständig beobachtet zu werden.

SPOX: Ist es schwer, die Natürlichkeit zu bewahren, wenn jeder Schritt kritisch beäugt wird?

Schlierenzauer: Absolut! Wenn man in der Öffentlichkeit ist, hat man ständig das Gefühl, die Leute reden über dich. Damit muss man lernen umzugehen, das war nicht leicht. Mittlerweile habe ich das gut im Griff, sehe das nicht zu eng.

SPOX: Das Fotografieren gehört zu Ihrer Passion: Durch die Linse sieht man oftmals Dinge anders. Wie betrachten Sie sich selbst?

Schlierenzauer: Ich bin ein Familienmensch - sehr ruhig und gelassen. Als Sportler würde ich mich als professionell und zielstrebig bezeichnen. Ich versuche, meinen Weg zu gehen, bin überaus akribisch und der Erfolg bestätigt mich darin.

SPOX: Das Streben nach sportlichem Ruhm wird Ihnen häufig falsch ausgelegt.

Schlierenzauer: Ich kann es nicht jedem recht machen. Viele Neider meinen, ich sei manchmal arrogant. Nein, ich versuche meinen Weg zu gehen, da muss man eben auf Dinge verzichten. Ich kann man nicht stundenlang in den Auslauf stellen und Autogramme geben. Stattdessen kläre ich mit dem Servicemann das Feintuning ab, um für den nächsten Sprung gerüstet zu sein. Außenstehende können das oftmals schwer beurteilen.

SPOX: Sie dürfen bereits ein halbes Dutzend Gold-Medaillen Ihre Eigenen nennen, fünf davon bei Weltmeisterschaften. Mit welchem Ziel reisen Sie zu den Titelkämpfen nach Val di Fiemme?

Schlierenzauer: Für einen Sportler ist es das Größte, wenn er nicht zu engstirnig ist, Atmosphäre und Stimmung aufzusaugen. Ich bin von den Erfolgen auf einem Niveau, dass der Tunnelblick nicht mehr so extrem ist. Ich bin relaxter, kann das Spektakel bewusst wahrnehmen. Wenn die Sprünge passen, gehöre ich zu den Favoriten. Das ist kein Geheimnis. Trotzdem geht es mir nicht um Titel, sondern um meine Visionen auf geile Sprünge.

SPOX: Einzel-Gold bei den Olympischen Spielen soll der nächste Meilenstein werden: Was passiert nach dem etwaigen Triumph in Sotschi?

Schlierenzauer: Der Erfolgshunger ist sicher nicht gestillt. Man rennt bekanntlich dem hinterher, was man nicht hat. Lange war es die Tournee, für die ich kämpfen musste. Der Einzel-Olympiasieg ist das nächste. Alles Weitere kann man nicht planen. Irgendwann kommt das innere Gefühl. Magdalena Neuner hat mit 25 Jahren alles erreicht und sich eine neue Herausforderung gesucht. Wie das bei mir ist, wird man sehen. Solange ich nach Zielen strebe, werde ich dem Sport erhalten bleiben.

Der WM-Kalender im Überblick