"Wer zum Teufel ist Gerdemann?"

Von Benjamin Sehring
Linus Gerdemann fährt seit 2009 für das deutsche Team Milram
© Getty

Als Quereinsteiger begann Linus Gerdemann seine Karriere, als Tour-Debütant trug er das Gelbe Trikot. Jetzt kämpft er um seine Karriere und für den Ruf seiner Sportart - und wenn es sein muss auch gegen Lance Armstrong.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Er brauche eine "solide Tour" für seine sportliche Entwicklung, hatte Linus Gerdemann vor der Frankreich-Rundfahrt erklärt. Einen Platz unter den ersten 15 der Gesamtwertung wollte er anstreben.

In den ersten beiden Tourwochen erfüllte der 26-Jährige die Erwartungen nicht. Vor allem nicht seine eigenen. Am ersten Ruhetag vor einer Woche verwies er aber auf die Alpenetappen, auf denen er angreifen wolle. Dort sei "noch alles möglich", hatte er gesagt.

So versuchte er am Sonntag auf dem 15. Teilstück, wieder in den Mittelpunkt zu fahren - und scheiterte. Sein Versuch misslang, sich vom Hauptfeld zu lösen und einer Ausreißergruppe anzuschließen. Er wurde eingeholt und fiel zurück.

Auf dem Schlussanstieg nach Verbier büßte er sogar mehr als vier Minuten auf Etappensieger Alberto Contador ein, knapp zwei Minuten waren es auf Tony Martin, den jungen Deutschen vom Team Columbia, der ihm in diesem Sommer eindeutig den Rang abgelaufen hat.

Stagnierende Entwicklung

Öffentlich gönnt Gerdemann Martin, mit dem er in der vergangenen Saison zusammen fuhr, ehe er zu Milram wechselte, die Erfolge, aber innerlich trifft ihn seine Zurückstufung.

Eigentlich war er doch Deutschlands größte Radhoffnung nach seinem sensationellen Etappensieg 2007 in Le Grand-Bornand, der ihm für kurze Zeit das Gelbe Trikot einbrachte.

Doch seither stagniert Gerdemanns sportliche Entwicklung. Zwar gewann er 2008 die Deutschland-Tour und dieses Jahr auch die Bayern-Rundfahrt, international hat er sich jedoch noch nicht als großer Fahrer herausgestellt.

Großer Rückstand

In diesem Jahr sollte es mit seinem zweiten Tour-Start und dem deutschen Team Milram anders laufen.

Herausgekommen ist aber eine Enttäuschung: nur Platz 41 bei der Tour de Suisse und nach 13 von 21 Etappen bei der Großen Schleife nur 24. mit fast vier Minuten Rückstand auf die Top 15, über fünf Minuten hinter Martin und 8:20 Minuten hinter Spitzenreiter Alberto Contador.

Fast scheint es so, als sei Gerdemann wieder dort angekommen, wo er vor seinem Durchbruch vor zwei Jahren war: im Nirgendwo.

Karrierestart im Keller

Neun Jahre vorher: Ausgerechnet in einem Keller zwischen allerhand Gerümpel entdeckt Linus Gerdemann seine neue Leidenschaft. Er ist gerade zu Besuch bei einem Freund, als dieser ihm ein  Rennrad zeigt. Und der 17-Jährige ist sofort Feuer und Flamme, denn dieses Rad hat einen großen Vorteil: es ruckelt nicht.

Eigentlich ist er ein aufstrebender Mountainbiker, aber nach einem Schienbeinbruch könnten Erschütterungen den Heilungsprozess stören, sagt sein Arzt. Mit dem Rennrad benutzt er fortan die asphaltierten Wege und macht schnell Karriere.

Profivertrag, T-Mobile, Gelbes Trikot

Früh feiert er in der U-23-Bundesliga erste Erfolge und wirde 2004 deutscher Meister. 2005 bekommt er 2005 bei CSC seinen ersten Profivertrag. Doch Teamchef Bjarne Riis kann den ehrgeizigen Deutschen nicht lange halten, und das Talent landet ein Jahr später im Team T-Mobile.

2007 startet er erstmals bei der Tour de France und braucht nur eine Woche, um sich einen Namen zu machen. Etappensieg, Gelbes Trikot. Sein unverbrauchtes Gesicht mit dem makellosen Lächeln ist auf allen Zeitungen auf Seite eins. Gerdemann ist nach dem gefallenen Helden Ullrich die neue deutsche Radsporthoffnung.

Tour versinkt im Sumpf

Doch wie schon die Tour 2006 ist auch diese Auflage bald in den Fängen des Dopings. Nur wenige Tage nach Gerdemanns Husarenritt fliegt Patrick Sinkewitz auf, worauf die öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten aus der Live-Berichterstattung aussteigen.

Später werden unter anderem noch Alexander Winokurow und der Gesamtführende Michael Rasmussen überführt.

Die Welle der Dopingenthüllungen zog immer weitere Kreise und im November beendete T-Mobile sein Engagement im Radsport.

Aus Gerdemanns deutschem Rennstall wurde das amerikanische Team Columbia-High Road.

Sprecher des Radsports

Gerdemann ist sich der problematischen Entwicklung vollauf bewusst und spricht offen darüber. Der Radsport leide derzeit unter einem schlechten Image, erzählt Gerdemann, der mit seinen blonden, zurückgegelten Haaren oft wie ein Geschäftsmann wirkt, der seine krisengeschüttelte Firma retten will.

Um das Ansehen seines Berufes zu verbessern, gibt Gerdemann Interviews und schreibt Kommentare, in denen er gebetsmühlenartig wiederholt, dass der Radsport vor einem neuen Anfang stehe, sich jedoch auf einem guten Weg befinde.

Der heute 26-Jährige entwickelte sich zum inoffiziellen Sprecher des deutschen Radsports. Um die Rolle des sauberen, ehrlichen, deutschen Radfahrers auszufüllen, war sein Wechsel zum deutschen Team Milram Ende zu Beginn der neuen Saison nur logisch und konsequent. Er musste zurück auf den deutschen Markt.

Klöden schimpft: "Profilneurose!"

Gerdemanns Rolle gefällt in Deutschland nicht jedem: "Ich habe das Gefühl, Linus will mit allen Mitteln in die Presse. Er hat eine kleine Profilneurose. Ich muss mich nicht vor jede Kamera stellen und mich als Retter des Radsports aufspielen", so Andreas Klöden.

Gerdemann gibt nicht allzu viel auf sein Image, die Message ist ihm wichtiger. Als die meisten zu Lance Armstrongs Comeback schwiegen, erklärte er offen: "Seine Rückkehr ist nicht unbedingt hilfreich für die Glaubwürdigkeit des Radsports."

Nach Armstrongs Rücktritt 2005 hatte die französische Sportzeitung "L'Equipe" dem US-Amerikaner in sechs Fällen Epo-Doping vorgeworfen und sich auf die Auswertung tiefgefrorener Proben von 1999 berufen.

Alles auf Anfang?

Armstrong selbst reagierte ungehalten auf die Aussagen des Deutschen: "Ich bin mit Sean Kelly, Stephen Roche, Miguel Indurain und Greg Lemond gefahren, aber wer zum Teufel ist Gerdemann."

"Wo ist Gerdemann?", fragt sich dagegen eher der deutsche Radsport-Fan. Immerhin: Ein paar Alpenetappen bleiben ihm noch, um sich zu zeigen und etwas für seine Entwicklung zu tun, wie er es selbst verlangte.

Der beste Zeitpunkt wäre der Mittwoch. Dann geht es nach Le Grand-Bornand, dem Ort seines größten Triumphes.

Tour de France 2009: Das sind die deutschen Fahrer