Das seltsamste Team der EM

Von Für SPOX in Vilnius: Haruka Gruber
NBA-Star Hedo Türkoglu tritt am Freitag mit der Türkei gegen Deutschland an
© Imago

Dirk Nowitzki und das DBB-Team sind im zweiten Zwischenrunden-Spiel gegen die Türken (Fr., 16.45 Uhr im LIVE-TICKER) zum Siegen verdammt. Doch der Gegner ist unberechenbar und zu allem fähig. Es kommt zum Duell der "Zwillinge im Geiste".

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Es war ein Fehler mit weitreichenden Folgen. Es war ein Fehler, der rational nicht zu erklären ist, weil genau der selbe Fehler sich schon mal vor 72 Stunden ereignet hatte und sich als gleichsam folgenschwer erwies.

Die Türkei zeigte gegen den Titel-Mitfavoriten Frankreich eine bewundernswerte Leistung. Der Kontrahent, gesegnet mit Überathleten und neuerdings auch einem Teamgeist, bestimmte die Partie und führte bis Mitte des letzten Viertels zweistellig, doch die in vielen Belangen unterlegenen Türken bissen sich zurück und gestalteten das Spiel zum Ende hin ausgeglichen.

25 Sekunden vor dem Schlusspfiff, beim Stand von 61:63, hatte der Außenseiter den Ball und die Wahl, wie der nächste Spielzug, der wichtigste des gesamten Duells, aussehen soll. Einwurf, einige Pässe hin und her, unsichere Blicke ob der aggressiven Verteidigung der Franzosen - und dann landete der Ball ausgerechnet in den Händen von Spielmacher Kerem Tunceri.

Tunceri wirft nur Backsteine

An sich war nichts dagegen einzuwenden, dass er zum Dreier hochstieg. Er wurde als Einziger von den Franzosen vernachlässigt und hatte freie Sicht auf den Korb. Nur: Tunceri verwarf und die Türkei verlor.

Genau wie drei Tage zuvor, als er ebenfalls den entscheidenden Dreier genommen und nicht getroffen hatte, was gleichbedeutend war mit einer Niederlage gegen die wesentlich schwächer eingestuften Polen.

Ein Blick in die Statistiken verrät, dass sich der einstmals wurfstarke Tunceri während der EM 17 Mal von der Dreierlinie versuchte und nur einmal traf.

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Offensichtliche Parallelen zu Deutschland

Das Spiel der Türken ist gekennzeichnet von derlei fatalen Fehleinschätzungen, die nicht mit Pech oder der Unwägbarkeit des Basketballs entschuldigt werden können.

"Wir wussten, dass es gegen Frankreich nicht einfach wird, aber wir haben erneut zu viele Fehler begangen. Zu viele Fouls, zu viele Turnover, zu viele zugelassene einfache Punkte", sagte Coach Orhun Ene - und wählte damit fast die genauen Worte, die wenige Stunden zuvor sein deutscher Kollege Dirk Bauermann bereits im Anschluss an die Spanien-Niederlage benutzt hatte.

Kein Zufall, sind die türkische und deutsche Nationalmannschaft doch Zwillinge im Geiste. Sie verfügen über einen dominanten NBA-Center (Ömer Asik/Chris Kaman), die Offensive wird getragen von wurfstarken Big Men (Hedo Turkoglu, Ersan Ilyasova/Dirk Nowitzki) und die Point Guards sind keine verlässlichen Schützen (Tunceri/Steffen Hamann).

Was beide am meisten eint, ist jedoch die Anfälligkeit für Formschwankungen und Unkonzentriertheiten in der Schlussphase. Eindrucksvoll von der Türkei unter Beweis gestellt, als es gegen Frankreich 5 Sekunden vor Schluss nicht gelang, einen Einwurf innerhalb der 5-Sekunden-Regel auszuführen.

Sieg ist Pflicht

Am Freitag kommt es nun zum Aufeinandertreffen dieser Mannschaften. Wer die kleine Chance auf das Viertelfinale erhalten möchte, ist zum Siegen verpflichtet. "Wir können uns auf ein schönes Spiel mit großartigen Matchups freuen. Die Deutschen spielen bisher unter ihrem Potenzial, aber das heißt nichts, denn sie sind eine Turniermannschaft", sagt Ene.

Wie die Türken selbst wiederum auftreten werden, wagen sie selbst nicht vorauszusagen. NBA-Veteran Hedo Turkoglu bezeichnet die Attitüde seiner Mannschaft als "zu relaxt". Der Forward der Orlando Magic: "Wir haben keine Konstanz zwischen den Spielen und während eines Spiels."

Nach Kantersiegen zum Auftakt gegen die Außenseiter aus Portugal und Großbritannien mussten sie sich Gastgeber Litauen und überraschend Polen geschlagen geben, was das Aus in der Vorrunde beinahe besiegelt hätte.

Zwei Wunder hintereinander

Doch am letzten Spieltag wendete sich das Schicksal, weil sie Zeugen zweier Basketball-Wunder hintereinander wurden: Polen unterlag Großbritannien, die Türkei selbst besiegte Titelverteidiger Spanien.

"Als wir in der Kabine hörten, dass die Polen verloren haben, ging ein Ruck durch die Mannschaft", sagt Ersan Ilyasova. "Das wir dann Spanien bezwingen konnten, gab uns für die Zwischenrunde viel Selbstvertrauen."

Davon dürfte nach der dramatischen Niederlage gegen Frankreich aber nicht mehr allzu viel vorhanden sein. "Wir müssen Stolz zeigen und die Sache einfach mal durchziehen. Das wird der Schlüssel gegen Deutschland", fordert Turkoglu, der selbst mit der von ihm geforderten Beständigkeit voran geht.

Ersan Ilyasova unzufrieden?

Sein Dreier-Quote ist unterdurchschnittlich (19,2 Prozent), doch er ist der zweitbeste Topscorer (11,2) und versucht sich als Anführer. Von Center Ömer Asik (Chicago Bulls) abgesehen zeigen sich seine Mitspieler jedoch höchst wechselhaft, allen voran seine NBA-Kollegen Ersan Ilyasova (Milwaukee Bucks) und Enes Kanter (Utah Jazz).

Ilyasova erzielt mal nur 4 Punkte (Großbritannien), dann wieder 20 (Litauen). Türkische Journalisten berichten davon, dass er unglücklich sei und nie im Kreise seiner Kollegen lachen würde, weil er sich mit seiner Rolle im Team nicht wohlfühlt und sich die Minuten mit Shootingstar Emir Preldzic und Turkoglu teilen muss. Er selbst betont auf Nachfrage, dass alles in Ordnung ist.

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Supertalent Kanter muss sich durchkämpfen

Weniger ein Opfer der Rotation denn mehr der Umstände ist der erst 19-jährige Kanter, der diesjährige Nummer-3-Pick der Jazz. Nachdem ihm die NCAA eine College-Spielberechtigung für Kentucky verwehrt hatte, kam er zwei Jahre ohne Basketball auf Wettkampf-Niveau zur EM. "Ich bin nicht in bester Form", sagt Kanter.

Angesichts dessen sind seine Leistungen bei allen Schwankungen zufriedenstellend. Er leidet jedoch wie die anderen Brettspieler darunter, dass die Türken vornehmlich am Perimeter und weniger in der Zone agieren. So bleiben Kanter vor allem Offensivrebounds, um sich selbst einen Wurf zu erarbeiten.

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Nur wegen Heimvorteil?

Es ist eine interessante Mischung, mit der die Türkei in Litauen antritt. Ähnlich wie bei Deutschland bilden Routiniers und hoffnungsvolle Talente den Kern der Mannschaft. Was fehlt, ist die Stabilität.

Die WM 2010 vor eigenem Publikum glich einem Triumphmarsch, der erst im Finale gegen die USA endete. Zuvor jedoch hatte die Mannschaft regelmäßig bei jedem Großturnier enttäuscht. Von Platz 6 bei der WM 2006 in Japan und dem Vize-Europameisterschaftstitel 2001 abgesehen - diese fand zuhause in der Türkei statt.

"Natürlich ist der Heimvorteil wichtig, das sieht man gerade an den Litauern", sagt Türkoglu. "Aber warum sollten wir nicht dennoch hier etwas reißen, auch wenn nur wenige Fans mitgereist sind? Letztes Jahr hat ja auch keiner an uns geglaubt und wir haben es ins Endspiel geschafft."

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