Mario Balotelli: Was ist aus dem "interessantesten Mann der Welt" geworden?

Von Mark Doyle / Patrik Eisenacher
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Vor einem Jahrzehnt schien Mario Balotelli auf dem Weg, ein Weltklasse-Spieler zu werden. Mittlerweile spielt der Italiener in der Schweiz. Wie konnte es dazu kommen?

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Es bleibt eines der legendärsten Bilder der Sportgeschichte: Mario Balotelli steht auf dem Platz, mit steinerner Miene, ohne Trikot, die Fäuste geballt, seine Muskeln zeigend - ein Bild voller Stärke. Wir Deutschen werden uns nur zu gut an das Halbfinale der EM 2012 gegen Italien (1:2) erinnern. Balotelli selbst beauftragte später sogar einen Künstler damit, ihm diesen Moment mit einer lebensgroßen Statue zu verewigen.

Er war nicht der Einzige, der von seiner Pose beeindruckt war. EA Sports setzte Balotelli in der nächsten Ausgabe auf das FIFA-Videospiel-Cover; der Tischkicker-Hersteller Subbuteo brachte ein Balotteli-Männchen heraus.

Damals waren alle von "Super Mario" begeistert. Er stand auf der Titelseite des Time Magazine und reihte sich damit in einen exklusiven Klub italienischer Helden wie Luciano Pavarotti, Silvio Berlusconi, Sophia Loren und Giorgio Armani ein.

Und Sports Illustrated bezeichnete ihn als den "interessantesten Mann der Welt".

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Mario Balotelli: "Ich werde immer für die italienische Nationalmannschaft spielen"

Balotelli war jung, talentiert und hatte keine Angst, seine Meinung laut und deutlich zu äußern.

Sein Auftreten bei der Europameisterschaft 2012 fühlte sich für viele wie ein wichtiger Moment in Italiens Kampf gegen den Rassismus an.

Als Sohn ghanaischer Einwanderer, der bei einem Ehepaar aus Brescia aufwuchs, hatte er nicht nur das Potenzial zum Weltklasse-Spieler, sondern auch persönlich das Zeug dazu, einer der einflussreichsten Sportler seiner Generation zu werden.

Kinder jeder Hautfarbe wollten so sein wie Balotelli. Sein markanter Irokesenschnitt war 2012 die gefragteste Frisur in Italien. Seine bloße Anwesenheit in der Nationalmannschaft löste eine längst überfällige Debatte über die nationale Identität aus.

"Ich bin Italiener", erklärte Balotelli, nachdem er mit 18 Jahren verspätet die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. "Ich fühle mich wie ein Italiener. Und ich werde immer für die italienische Nationalmannschaft spielen."

Und doch wird Balotelli ein Jahrzehnt später wegen seines schlechten Benehmens zum Teil als "peinlich" betitelt, als Symbolbild für einen Absturz.

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Roberto Mancini: "Ich denke, dieses Kapitel ist abgeschlossen"

Er ist immer noch "erst" 32 Jahre alt, hat aber seit 2018 nicht mehr für sein Land gespielt - das ist aus zwei Gründen erklärungswert. Erstens leidet Italien unter einem enormen Stürmer-Mangel. Zweitens ist der aktuelle Nationaltrainer, Roberto Mancini, einer der wenigen Männer im Fußball, die das Beste aus Balotelli herausgeholt haben.

Doch als Mancini vor Kurzem gefragt wurde, ob er Italiens verlorenen Sohn wieder in die Mannschaft holen wolle, antwortete er: "Ich denke, dieses Kapitel ist abgeschlossen."

Und man kann verstehen, warum der Trainer der Azzurri nichts mehr mit Balotelli zu tun haben will. Der Stürmer hat in den letzten zehn Jahren mehr als genug Chancen bekommen, seine Qualität unter Beweis zu stellen, hat aber stets enttäuscht.

In den letzten neun Jahren spielte er bei acht verschiedenen Klubs. Nur bei einem davon, in Nizza unter Ex-BVB-Trainer Lucien Favre, sah es zwischen 2016 und 2018 so aus, als würde seine Karriere neuen Schwung bekommen.

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Vincenzo Montella: "Wir haben mehr von Mario erwartet"

Doch sein Talent hat er über die Jahre nicht verloren - es ist weiterhin vorhanden.

Erst letztes Jahr, während seiner Zeit bei Adana Dermirspor in der türkischen Süper Lig, ging eine Szene viral, in der er nach einigen Übersteigern einen spektakulären Rabona-Kick im Tor unterbringt.

Es war eines von fünf Toren, die Balotelli in diesem einen Spiel erzielte. Dennoch endete seine Zeit in der Türkei vorzeitig und auf vorhersehbare Weise: Balotelli wurde zu Beginn der laufenden Saison nach einem Streit mit Trainer Vincenzo Montella entlassen.

Der trat später nach: "Ich kann nur sagen, dass wir mehr von Mario erwartet haben", wiederholte Montella die Aussagen von zahlreichen Trainern im Laufe von Balotellis Karriere. "Es gibt Dinge, die am Ende eines Spiels schonmal passieren können. Vielleicht bringt das Adrenalin einen dazu, bestimmte Dinge zu sagen. Aber für mich ist er hier fertig."

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Mario Balotelli: Ein entspanner Lebensstil statt hartem Training

Auch in Sion könnte seine Zeit bald ablaufen. Es verheißt nichts Gutes für die Zukunft, wenn die Fans des eigenen Klubs sein Trikot auf der Tribüne verbrennen, weil er sich nicht genug ins Zeug legt.

Balotelli ist im August 2022 in die Schweiz gewechselt. Bisher durfte er erst 18-mal auf den Platz und erzielte nur sechs Tore. Dabei hat er nichts an seinem Ruf geändert, demotiviert zu sein.

Schon bei seiner Ankunft sagte der Angreifer, dass sein Wechsel nach Sion eine "Entscheidung für den Lebensstil" sei - er deutete also sofort an, es dort ruhig angehen lassen zu wollen. Als dann Bilder auftauchten, wie er aus einem Club in Lausanne geworfen wurde, war endgültig klar: Auch bei Sion möchte sich Balotelli mehr außerhalb als auf dem Platz vergnügen.

Doch Balotelli ist nicht dumm oder unreflektiert. Er ist sich bewusst, dass er "kein einfacher Kerl ist". Er weiß, dass er eine Menge Fehler gemacht hat und bereut immer noch bitter, dass er 2010 vor den Inter-Fans im San Siro sein Trikot auf den Boden warf: "Ich gebe zu, dass das alles ruiniert hat und, dass sich das nicht gehört", sagte er kürzlich dem Podcast Muschio Selvaggio. "Aber ich war 19 Jahre alt. Ich konnte nicht verstehen, warum das Stadion mich verhöhnt hat, weil ich ein paar Mal den Ball verloren hatte. Ich bin an diesem Abend weinend nach Hause gegangen."

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Mario Balotelli: "Das Rampenlicht war immer auf micht gerichtet"

Seine Kritiker haben meistens Recht - doch die Frage ist auch gerechtfertigt: "Warum immer er?" Diesen Slogan trug er einst nach einem Tor für Manchester City unter seinem Trikot auf einem T-Shirt.

Balotelli selbst würde sagen, dass es auch an seiner Hautfarbe liegt, dass die Aufmerksamkeit immer ihm gehört. "Ich stand immer im Rampenlicht", betont Balotelli.

Als Grund, warum die Leute oft darüber redeten, was er abseits des Platzes mache, nannte Balotelli "seinen Charakter und, dass ich als Teenager als Wunderkind galt". Doch hauptsächlich dafür verantwortlich sei seiner Meinung nach, "der erste schwarze Spieler im Kader der italiensichen Nationalmannschaft gewesen zu sein".

Es lässt sich nicht leugnen, dass Balotelli im Laufe seiner Karriere anders behandelt wurde. Es wird auch manchmal vernachlässigt, dass er regelmäßig rassistisch beleidigt wurde.

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Mario Balotelli: "Glücklich mit dem Weg, den ich gegangen bin"

Allerdings hat Balotelli auch zugegeben, dass er in seiner Karriere zu oft "20 Prozent meines Potenzials" genutzt habe. Sein früherer, mittlerweile verstorbener Berater Mino Raiola hatte ihm mehrmals gesagt, dass seine Faulheit und mangelnde Disziplin der Grund dafür seien, warum er nicht wie "Lionel Messi und Cristiano Ronaldo so viele Ballons d'Or gewonnen" habe. Raiola war zwar für seine Übertreibungen bekannt, aber im Jahr 2012 sah es wirklich so aus, als könne Balotelli einer der besten Spieler seiner Generation werden. Er war so unglaublich gut, dass es nur noch umso mehr schmerzt, dass er sich all die möglichen Erfolge selbst verbaut hat.

Der Italiener sagt, dass er nach seinem Karriereende "zufrieden mit dem Weg sein wird, den ich eingeschlagen habe", und beharrt darauf, dass er noch "weitere vier Jahre auf einem guten Niveau" spielen könne. Doch die Hoffnung, dass er sein Potenzial nun auch erkennt und endlich hart arbeitet, ist längst dahin.

Er bleibt natürlich eine faszinierende Persönlichkeit und hat unbestreitbar schon jetzt eine außergewöhnliche Karriere hinter sich. Aber ist er der interessanteste Mann der Welt? Eigentlich nicht mehr. Dafür ist er vielleicht der frustrierendste Fall von ungenutztem Talent, den es im Fußball je gegeben hat.

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