Zwischen Schock und Trotz

Das DHB-Team will sich von den Verletzungen von Weinhold und Dissinger nicht unterkriegen lassen
© getty

Das DHB-Team rockt bei der EM in Polen weiter und schlägt Russland im zweiten Spiel der Hauptrunde mit 30:29. Die Ausfälle von Steffen Weinhold und Christian Dissinger wiegen schwer, sollen aber nicht das Ende sein. Carsten Lichtlein kennt den Schlüssel zum Sieg gegen Dänemark (Mi., 18.15 Uhr im LIVETICKER), beim Thema Halbfinale droht eine teuflische Konstellation.

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Wenige Minuten vor der obligatorischen Pressekonferenz im deutschen Hotel verzogen sich Dagur Sigurdsson und Bob Hanning in eine Ecke des Medienraumes. Beide starrten am Tag nach dem Russland-Spiel eine Weile lang auf das Handy des DHB-Vizepräsidenten, besprachen sich kurz und nahmen dann mit ernster Miene Platz.

"Schlechte Nachrichten", eröffnete Hanning. Das Duo hatte soeben aus dem Krankenhaus die Information bekommen, dass neben Kapitän Steffen Weinhold auch Christian Dissinger definitiv für den Rest der EM ausfällt.

Weinholds Aus kam nicht mehr wirklich überraschend. Bei Dissinger, der gegen Russland mit sieben Toren Topscorer war und sich wie sein Kieler Klubkollege bei einer Abwehraktion an den Adduktoren verletzt hatte, gab es aber bis zuletzt Hoffnung. Noch am späten Sonntagabend hatte der linke Rückraumspieler via Twitter mitgeteilt, kämpfen zu wollen, um im Turnier zu bleiben.

"Das ist sehr bitter für uns"

Nun ist diese Hoffnung wie eine Seifenblase geplatzt. Die Teamkollegen, die teilweise von den Journalisten von der endgültigen Diagnose erfuhren, waren sichtlich geschockt.

"Was, beide fallen aus?", fragte der selbst etwas kränkelnde Steffen Fäth von SPOX auf die schlechten Neuigkeiten angesprochen: "Das ist sehr bitter für uns. Weinhold hat einfach ein gutes Turnier gespielt und Dissinger hat gegen Russland gezeigt, wie wichtig er für uns sein kann. Aber es muss weitergehen."

Weinhold selbst, der wahrscheinlich als moralische Unterstützung in Polen bleiben wird, war "sehr traurig", setzt aber auf eine Trotzreaktion: "Ich hoffe, dass sich die Mannschaft voll reinhängt und trotzdem das Halbfinale erreicht."

Nicht mit den bisherigen Ausfällen zu vergleichen

Gut 15 Stunden nach dem Sieg gegen Russland war auch Sigurdsson bedient. Der Isländer, der bisher noch nicht ein einziges Mal über die Verletzungsseuche gejammert hatte. "Es ist ein kleiner Schock", meinte der 42-Jährige: "Bitter für uns und für den THW Kiel. Das wird jetzt eine Riesenaufgabe, sie ist nicht zu vergleichen mit den Ausfällen von Uwe Gensheimer und Co. Diese Ausfälle sind sehr kurzfristig, darauf kann man sich nicht vorbereiten."

Gensheimer, Patrick Groetzki, Patrick Wiencek, Paul Drux - und jetzt auch noch Weinhold und Dissinger. Deutschland ist fast eine komplette Startformation weggebrochen.

Der DHB hatte vorsorglich schon am Sonntagabend in die Heimat gefunkt und Kai Häfner und Julius Kühn angewiesen, sich am Montag auf den Weg nach Breslau zu machen. Beide Spieler sind mittlerweile im Mannschaftshotel eingetroffen.

Häfner, rechter Rückraumspieler von der TSV Hannover-Burgdorf, ist aktuell mit 110 Treffern bester Feldtorschütze der HBL. Der linke Rückraumspieler Kühn vom VfL Gummersbach hat immerhin 88 Tore auf dem Konto.

"Nicht von einem oder zwei Spielern abhängig"

Sigurdsson hält viel von dem Duo. Als er den ersten Schrecken verdaut hatte, richtete er sich wieder auf und erklärte nahezu trotzig: "Wir werden kämpfen bis zum Umfallen, wir werden nicht aufgeben." Schließlich habe die Partie gegen Russland gezeigt, dass man einen breiten Kader habe und "nicht von einem oder zwei Spielern abhängig" sei.

"Mit unserer Vorstellung, unserem Kampfgeist und unserem Teamspirit war ich absolut zufrieden. Ich denke, am Ende haben die Abwehr und die bessere Torwartleistung zu unseren Gunsten entschieden", sagte Sigurdsson über das zurückliegende Spiel.

Das hatte seine Mannschaft unnötig spannend gemacht. Nach einem schwachen Start wurde ein Drei-Tore-Rückstand bis zur Pause in eine knappe Führung (17:16) umgewandelt, ehe das Match nach 45 Minuten beim Stand von 25:20 so gut wie gelaufen schien.

Schmidt rätselt über Schwächephase

"Ich weiß nicht, was der Auslöser dafür war, dass wir dann den Faden verloren haben", rätselte der mit sechs Toren bei sieben Versuchen starke Kreisläufer Erik Schmidt. Jedenfalls leuchtete nicht einmal sieben Minuten später das 26:26 auf der Anzeigetafel auf.

Deutschland legte wieder vor und hätte bei 30:29 nur den Angriff vernünftig ausspielen müssen, um die Partie nach Hause zu bringen. Doch dann unterlief dem 21-jährigen Fabian Wiede ein verhängnisvoller technischer Fehler, der einem jungen Spieler eben mal passieren kann.

Wiede im SPOX-Interview: "Dagur tut dem Handball gut"

Zwar lenkte Torhüter Lichtlein den darauffolgenden letzten Wurf der Russen über den Kasten. Doch ausgerechnet bei diesem russischen Angriff verletzte sich Weinhold, als er den Patzer seines Teamkollegen mit einer waghalsigen Abwehraktion ausbügelte.

"Wir können alles klar machen und verlieren dann hektisch den Ball. Wenn der letzte Ball reingeht, stehen wir alle hier rum und lassen die Köpfe hängen. Wir können wirklich froh es, dass wir das Ding gewonnen haben", sagte Schmidt.

Ärger über Schiri-Gespann

Mitverantwortlich für die russische Aufholjagd waren auch ein bisschen die beiden Schiedsrichter Duarte Santos und Ricardo Fonseca, die merkwürdige, ja teilweise schlichtweg falsche Entscheidungen trafen.

"Ich kann nur eins hoffen: Dass uns diese Portugiesen nie mehr pfeifen. Meine Halsschlagader", polterte ARD-Experte Stefan Kretzschmar. Und Sigurdsson meinte: "Das ist sehr ungewöhnlich, was die da pfeifen. Gefühlt war das gegen den Wind."

Letztlich reichte es dennoch. Die Spieler tanzten wie verrückt durch die Hala Stulecia. Lichtlein stürmte auf Sigurdsson zu und fiel dem Bundestrainer um den Hals: Nach dem vierten Sieg in Folge schwebte der DHB-Tross auf Wolke sieben.

"Wir sind einfach nur ausgerastet. Als ich gesehen habe, dass der isländische Eisblock auch so jubelt, gab es kein Halten mehr", war der gute und nach 23 Minuten für den schwächelnden Andreas Wolff gekommene Lichtlein über den emotionalen Ausbruch des sonst so nüchternen Sigurdsson überrascht.

DHB-Team "gehört die Zukunft"

Trotz zwischenzeitlicher Schwierigkeiten in Angriff und Abwehr hatte das DHB-Team wieder einmal mehr richtig als falsch gemacht. Und auch die Russen agierten längst nicht fehlerfrei.

"Vor der Pause stand unsere Abwehr nicht so sicher wie gehabt, nach dem Wechsel haben wir zu viele Chancen verworfen - das waren die Gründe für die Niederlage", analysierte der russische Nationaltrainer Dmitri "Pino" Torgovanov.

Der frühere Bundesliga-Profi sparte anschließend nicht mit Lob für das DHB-Team. Man habe gegen eine deutsche Mannschaft gespielt, "der die Zukunft gehört", meinte Torgovanov: "Man muss vor der Arbeit von Dagur Sigurdsson den Hut ziehen. Er hat eine Mannschaft aufgebaut, die alle deutschen Tugenden vereinigt und sehr organisiert spielt."

Russlands Kreisläufer Mikhail Chipurin, der mit fünf Toren bei fünf Würfen eine tolle Vorstellung lieferte, schlug in dieselbe Kerbe: "Diese deutsche Mannschaft wird in Zukunft äußerst erfolgreich sein, die hat Potenzial."

Reicht selbst ein Sieg nicht?

Ob dieses Potenzial der in Polen so begeisternden DHB-Truppe, der das Spiel um Rang fünf nicht mehr zu nehmen ist, allerdings auch für den Einzug in die Finalrunde in Krakau reicht, bleibt abzuwarten. Es droht in der Gruppe 2 mittlerweile eine Konstellation, bei der selbst ein Sieg gegen die Dänen nicht zum Weiterkommen reichen würde.

Sollte Spanien seine letzten beiden Hauptrundenspiele gegen Ungarn und Russland gewinnen, und sollte sich Dänemark gegen Schweden durchsetzen, dann aber gegen Deutschland verlieren, stünden alle drei Teams mit 8:2 Punkten da. Es käme zum Dreiervergleich.

Dazu wird aus den Ergebnissen der Teams untereinander eine eigene Tabelle gebildet, in der alle drei Mannschaften jeweils 2:2 Punkte hätten. Bei der Tordifferenz steht bei Spanien nach dem 32:29 gegen Deutschland und dem 23:27 gegen Dänemark ein 55:56 und somit -1 zu Buche.

Die Tabellen der Hauptrunden-Gruppen

Vor dem Duell gegen Dänemark findet sich bei Deutschland das 29:32 gegen Spanien, ein Sieg mit drei Toren würde die Tordifferenz ausgleichen und das DHB-Team an Spanien vorbeiziehen lassen. Das gilt auch für den Fall, wenn das DHB-Team mindestens 27 Tore erzielt und mit zwei Treffern Vorsprung gewinnt. Dann wäre die Tordifferenz gleich, doch Deutschland hätte die mehr erzielten Treffer auf seiner Seite.

Lichtleins Mittel gegen Dänemark

Um den Rechenschieber aber überhaupt herauskramen zu müssen, braucht Deutschland zunächst einmal einen Sieg gegen Dänemark, das bislang alle seine vier Spiele gewonnen hat - eine Mammutaufgabe.

"Wir müssen eine kompakte, aggressive Abwehr hinstellen, dadurch Ballverluste erzwingen und möglichst viele leichte Tore nach Tempogegenstößen erzielen", glaubt Lichtlein einen Weg zum Sieg gegen einen der absoluten Topfavoriten auf den Titel zu kennen.

Lichtlein im SPOX-Interview: "Zieh mein Ding so durch wie immer"

Egal, wie es am Ende ausgeht, eines ist jetzt schon sicher: Diese deutsche Mannschaft zählt bei der EM in Polen zu den Gewinnern.

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