"So etwas habe ich noch nie erlebt"

Von Für SPOX in Jönköping: Florian Regelmann
Auch die deutschen Torhüter konnten nicht an ihre gute Form anknüpfen
© Getty

Für die deutsche Handball-Nationalmannschaft ist bei der WM in Schweden die Vollkatastrophe wahr geworden. In ihrem letzen Hauptrundenspiel verlor das DHB-Team vor 2700 Zuschauern in der Kinnarps Arena zu Jönköping gegen Norwegen mit 25:35 (13:17). Nach der Pleite gegen Ungarn gab es die nächste völlig desolate Vorstellung. Jetzt spielt Deutschland am Donnerstag nur um Platz elf. Für Olympia 2012 gibt es nur noch einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer. Heiner Brad war entsetzt.

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Bester deutscher Torschütze war Michael Kraus (6), gefolgt von Lars Kaufmann, Holger Glandorf, Adrian Pfahl und Christian Sprenger mit jeweils vier Treffern. Für die Norweger, die ihren ersten Sieg in der Hauptrunde feierten, trafen Havard Tvedten (8), Bjarte Myrhol (7) und Christoffer Rambo (7) am besten.

Der als Minimalziel angestrebte siebte Platz ist für das DHB-Team also verpasst worden. Und das noch deutlich. Deutschland hat sich nicht einmal für ein Olympia-Qualifikationsturnier im April 2012 qualifiziert. Am Donnerstag (18 Uhr) bestreitet man zum Abschluss in Kristianstad das Spiel um Platz elf gegen Argentinien - ein einziger Albtraum.

Als letzter Hoffnungsschimmer im Hinblick auf die Olympischen Spiele bleibt die Möglichkeit, sich bei der EM 2012 in Serbien noch in ein Qualifikationsturnier zu mogeln. Neben dem Europameister, der automatisch in London dabei sein wird, geht es bei der nächsten EM auch um zwei Quoten-Plätze, die Europa für die Olympia-Qualifikationsturniere zur Verfügung stehen.

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Reaktionen

Heiner Brand: "So etwas habe ich noch nie erlebt. Da war kein Kampf, kein Aufbäumen. Niemand, der das Team mal mitreißt. In der ersten Halbzeit hatten wir ja noch gute Chancen - dann haben wir aber vorne zu leichtfertig Bälle verloren und Überzahl-Tore kassiert. Außerdem haben dann auch unsere Torhüter nicht mehr so gehalten. Das tut weh. Der Ruf des deutschen Handballs hat in den letzten beiden Spielen gelitten."

Johannes Bitter: Wir hatten ein klares Ziel, das haben wir nicht erreicht. Das tut weh. Wir haben heute richtig einen abgekriegt. Jetzt müssen wir wieder aufstehen. Aber wir sind ein junges Team und befinden uns noch im Aufbau. Das braucht immer Zeit."

Michael Kraus: "Man ist sprachlos, wenn man so eine Leistung einer deutschen Nationalmannschaft sieht. Das darf nicht passieren, jeder muss sich hinterfragen. Denn mit zehn Toren gegen Norwegen zu verlieren, das geht überhaupt nicht. Die Mannschaft war irgendwie blockiert. Unser Prunkstück die Abwehr hat nicht gegriffen. Norwegen hat sich in einem Rausch gespielt und alles getroffen."

Michael Haaß: "Wir wollten alles in dies Spiel hineinlegen, aber es ist ins genaue Gegenteil umgeschlagen. Der Schuss ist nach hinten losgegangen. Bis zum Spielstand von 8:8 war noch alles in Ordnung, dann war Norwegen uns in allen Belangen überlegen."

Lars Kaufmann: "Wir waren im Kopf nicht frei und konnten den Kampf nicht annehmen."

Holger Glandorf: "Der Knackpunkt war unsere gestrige Partie gegen Ungarn. Wenn wir da gewonnen hätten, wären wir heute auch als Sieger vom Platz gegangen. Wir haben viele unzählige freie Chancen nicht genutzt und die nötige Aggressivität in der Abwehr vermissen lassen. So war Norwegen nicht zu stoppen."

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Vor dem Spiel: Brand bleibt dabei und wechselt zwischen seinen beiden Weltklasse-Keepern. Diesmal ist wieder Heinevetter an der Reihe. Im Angriff starten Klein, Kaufmann, Haaß, Glandorf, Sprenger und Preiß. Zwischen Angriff und Abwehr wird nicht getauscht. Heißt: Brand zieht die Konsequenzen aus dem Ungarn-Debakel und setzt Kraus, Hens, Gensheimer und Pfahl auf die Bank. Bei den Norwegern erhält Ege im Tor den Vorzug vor Erevik. Auf halblinks beginnt nicht Kjelling, sondern Riesentalent Hansen.

11.: Viel zu durchsichtig, was Kaufmann da macht! Schon wieder ein Aufsetzer. Schon wieder gehalten. Und dann treffen die Norweger im Gegenzug. Viele Fehlwürfe. Zu viele!

17.: Und Hens erlaubt sich gleich mal einen Fehler. Schlechtes Abspiel, abgefangen - und das nächste Gegentor. Schwach.

21.: Auch in Unterzahl punktet Norwegen munter weiter. Die Deutschen hingegen sehen vor dem Kasten von Ege immer wieder schwach aus. So wie Hens, der direkt auf den Norweger im Kasten zielt. Norwegen jetzt drei Tore vor.

23.: Deutschland kommt einfach nicht durch. Immer wieder versucht es das Brand-Team durch die Mitte - genau da, wo die norwegische Abwehr am dichtesten steht. Das Resultat: Verlegenheitswürfe aus der Distanz. Hens aus neun Metern. Ege hält. Mal wieder.

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30.: Unglaubliche 16 Fehlwürfe haben die Deutschen auf dem Konto. Das muss besser werden. Es läuft gar nicht für das Brand-Team. Im Gegenzug macht Tvedten das 17. norwegische Tor in der letzten Sekunde.

37.: Norwegen bringt jeden Ball an den Kreis! Stehend, liegend, irgendwie! Und auch dieser Treffer zählt, auch wenn der Myrhol bereits mit dem Arm im Kreis lag. Obendrauf gibt es noch eine Zwei-Minuten-Strafe gegen Preiß. Jetzt wird es bitter!

43.: Bitter mit einer starken Doppel-Parade! Erst hält er den Siebenmeter, dann auch den Nachwurf. Vielleicht die Wende? Nein! Ganz wilder Abspielfehler von Groetzki auf Klein im folgenden Angriff. Norwegen zieht auf sechs Treffer davon. Deutschland schlägt sich selbst.

47.: Achtung, Wortwitz: Rambo IV für Norwegen. Vierter Treffer für Christoffer Rambo. Und gleich die Nummer fünf hinterher. Norwegen jetzt mit sieben Toren vorne. Die deutsche Quote weiter mies. Weniger als die Hälfte der Würfe finden den Weg ins Tor.

50.: Jetzt wird es ruppig. Haaß nimmt Rambo in die Mangel. Der geht kurz zu Boden, steht dann aber auf und haut das Ding rein. Ege hält den Gegenschlag, Brand winkt ab. Jetzt ist das Ding hier offiziell gelaufen. Ganz schwache Vorstellung des DHB-Teams.

54.: Was den Deutschen jetzt noch einfällt? Würfe aus mehr als zehn Metern. Leichte Beute für Ege. Norwegen trifft im Gegenzug, mal wieder. Auch, weil die deutschen Torhüter nix mehr halten. Rambo zum Siebten.

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Der Star des Spiels: Bjarte Myrhol. Der Löwen-Kreisläufer spielt eine überragende WM - und seine ganze Klasse zeigte er auch gegen Deutschland. Myrhol war ein ständiger Unruheherd und für die deutsche Abwehr überhaupt nicht in den Griff zu bekommen. Immer wieder setzte er sich mit seinem Körper stark durch und kam zu freien Würfen. Selbst im Gegenstoß war er nicht aufzuhalten. Und in der Abwehr ist Myrhol auch noch stark. Ein kompletter Kreisläufer von Weltformat. Etwas, was Deutschland nicht hat. Ebenfalls überragend: Tvedten, Rambo und Hexer Ege im Tor.

Der Flop des Spiels: Das gesamte deutsche Team. Egal wie schlecht es laufen mag. Egal wie frustriert man ist. Egal wie müde man ist. So darf man sich in einem so entscheidenden Spiel für den deutschen Handball nicht präsentieren. Wie sich die DHB-Auswahl in der zweiten Hälfte - ähnlich dem Frankreich-Spiel, völlig fertig machen ließ, ist durch nichts zu entschuldigen. Vorne eine Katastrophe, hinten eine Katastrophe (35 Gegentore!), Charakter eine Katastrophe. Wer einem wirklich Leid tun konnte, waren Heinevetter und Bitter.

Analyse: 20 Stunden nach dem blamablen Auftritt gegen Ungarn schaffte es das deutsche Team nicht, den Schalter noch einmal umzulegen und wieder in den Island-Modus zu kommen. Von Beginn an war das Bild im Prinzip nicht viel anders als gegen Ungarn. Allein in den ersten zehn Minuten leistete sich das DHB-Team sechs Fehlwürfe.

Die Abwehrvariante mit einem vorgezogenen Michael Haaß, die man so noch überhaupt nicht gesehen hatte, fruchtete auch nicht. Norwegens Kreislauf-Star Myrhol konnte sich immer wieder durchsetzen. Die Norweger, die sich im Übrigen ähnlich wie Ungarn auch so einige Patzer erlaubten, führten eine Zeit lang konstant mit zwei Toren Vorsprung.

Als sich die deutsche Mannschaft mit viel Kampf und Krampf irgendwie zum Ausgleich gearbeitet hatte (8:8) und Hoffnung aufkam, dass sie zu ihrem Spiel finden würde, folgte die nächste Horror-Phase bei dieser WM. Ein 7:2-Lauf der Norweger sorgte dafür, dass Deutschland plötzlich mit fünf Toren in Rückstand lag (10:15). Silvio Heinevetter war angesichts der Darbietung seiner Vorderleute völlig entnervt und machte kurz vor der Pause für Johannes Bitter Platz.

Der WM-Spielplan: Alle Spiele, alle Gruppen, alle Topscorer!

Was Deutschland zum zweiten Mal in Folge im Angriff - und auch in der Abwehr - bot, war einfach nur erschütternd. Es waren nicht nur Fehlwürfe, es waren zum Teil haarsträubende Fehlwürfe. Völlig überhastet. Ohne jeden Plan. Bezeichnend die Szene, als Mimi Kraus in Überzahl als Rechtshänder aus dem rechten Rückraum einen unglaublich wilden Wurf nimmt und ihn neben das Tor donnert. In Überzahl fingen sich die völlig verunsicherten Deutschen sogar noch Treffer.

Es war insgesamt eine erneut katastrophale Mannschaftsleistung, aber in erster Linie war es ein erneuter Offenbarungseid des gesamten deutschen Rückraums, der einfach im internationalen Vergleich nicht ansatzweise die nötige Klasse hat bzw. sie teilweise nicht konstant abrufen kann. Pascal Hens (0/6-Quote gegen Ungarn) kam beispielsweise für Kaufmann ins Spiel und machte mit zwei Fehlwürfen und einem Turnover gleich da weiter, wo er am Montag aufgehört hatte.

Während das deutsche Team lange nicht zu einem einzigen Gegenstoß kam und seine Stärke, das Tempospiel, überhaupt nicht zur Geltung brachte, kamen die Norweger immer wieder ins Laufen. Nach der Pause änderte sich das Bild nicht mehr. Das DHB-Team war zwar anfangs noch bemüht, aber ein Comeback fand nicht mehr statt. Die klar besseren Norweger bauten ihren Vorsprung immer weiter aus und spielten es aus deutscher Sicht erschreckend souverän nach Hause.

Völlig paralysiert ließ sich das deutsche Team abschlachten. Norwegen zeigte Charakter und wollte den Sieg unbedingt, Deutschland nicht. Nach dem Island-Spiel hätte man es nicht für möglich gehalten, aber der deutsche Handball ist an einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Nach dem 10. Platz bei der EM in Österreich steht jetzt höchstens der 11. Rang bei der WM zu Buche - die Olympia-Teilnahme ist darüber hinaus so gut wie weg. Das sind die nackten Fakten, die alles aussagen. Eine schwarze Stunde für den deutschen Handball.

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