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England scheitert im WM-Halbfinale an Kroatien: Letzter Umweg der Heimreise?

England verlor das WM-Halbfinale gegen Kroatien mit 1:2 nach Verlängerung.
© getty

Auch bei der WM 2018 wird England nicht seinen zweiten großen Titel nach 1966 gewinnen. Im Halbfinale setzte es nach Verlängerung eine 1:2-Niederlage gegen Kroatien. Die Nation aber ist stolz auf ihre Mannschaft und dieses Turnier vielleicht nur ein letzter Umweg der Heimreise.

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Der Unterschied zu den vergangenen Turnieren Englands war in zwei, vielleicht drei Minuten nach dem Abpfiff im Luschniki-Stadion von Moskau bestens zu erkennen. Da lag Jordan Pickford auf dem Bauch, da hockte Jamie Vardy, da saß Dele Alli, da stand Harry Maguire. Regungslos, geschlagen, niedergeschlagen.

Aber davor bewegte sich alles: erst langsam, dann schneller. Es waren die Hände Tausender englischer Fans auf den Tribünen, die immer wieder auseinander- und zusammenschnellten. Und mit ihnen Millionen weiterer englischer Hände in Liverpool, in London oder in Leeds. Sie alle klatschten. Sie applaudierten ihrer Nationalmannschaft, die bei der WM 2018 zwar geschlagen aber keineswegs gedemütigt wurde.

Vor 2018 hatte England letztmals 2006 ein K.o.-Spiel bei einem Turnier gewonnen. Es folgten Jahre, die zwischen Enttäuschung und Verhöhnung schwankten. 2008 qualifizierte sich England nicht einmal für die EM - wegen einer Niederlage gegen Kroatien. An der Seitenlinie stand damals Steve McClaren: "The Wally with the Brolly", der Trottel mit dem Regenschirm. Es folgten eine Achtelfinal-Pleite gegen Deutschland 2010, ein verlorenes Elfmeterschießen gegen Italien 2012, ein Vorrunden-Aus gegen Uruguay und Costa Rica 2014 und als trauriger Höhepunkt das Debakel gegen Island 2016.

Die englische Nationalmannschaft reihte Peinlichkeit an noch größere Peinlichkeit. Und England lachte über England.

Englands Mannschaft und ihre Fans: Eine Einheit

Diesmal lachte aber keiner, diesmal applaudierten alle. "Wir haben eine fantastische Reise hinter uns. Wir können stolz sein auf alles, was wir erreicht haben", sagte Kapitän Harry Kane nach dem Spiel. Seine Haut war verschwitzt, seine Augen rot. Er hatte wohl ein bisschen geweint und mit ihm eine Nation. "Kroatien bricht Herzen", schrieb die Sun. "Die Herzen der Three Lions zerbrechen", der Mirror. Die Daily Mail berichtete von einem "herzzerbrechenden Halbfinale" und der Telegraph von "totalem Herzschmerz". Heartbreaking.

Während die Spieler also alle so regungslos dalagen, hockten, saßen oder standen und die Fans davor klatschten, kam Trainer Gareth Southgate zu ihnen. Es war, als ginge er durch einen Wald und erweckte einen Baum nach dem anderen zum Leben: Schulterklopfer, Umarmungen, Aufmunterungen. Die Spieler sammelten sich und applaudierten den Fans zurück. Eine Einheit.

"Das Verhalten der Fans, vor allem im Vergleich zu vor zwei Jahren, zeigte den Spielern, dass es auch auf Erlebnisse mit der englischen Nationalmannschaft positive Reaktionen geben kann. Das ganze Land ist sehr stolz auf sie und die Art und Weise, wie sie gespielt haben", sagte Southgate nach dem Spiel.

Er selbst kannte dieses Gefühl noch aus seiner Zeit als aktiver Spieler: von der Heim-EM 1996. Es war das zuvor vielleicht letzte Mal, dass sich englische Spieler und Fans so nahefühlten. Auch damals scheiterte England im Halbfinale. Heartbreaking. An Deutschland, weil Southgate im Elfmeterschießen vergab. Zuvor getroffen hatte unter anderem Paul Gascoigne, aber es nutzte ja nichts. Mittlerweile ist Gascoigne längst Fan, vor dem Spiel richtete er im Daily Mirror eine Botschaft an die aktuelle Mannschaft: "Spielt wie Zehnjährige!"

England: Die Ruhe des Balls und die Ruhe der Nerven

Die elf Engländer, die zu Beginn auf dem Platz standen, machten aber genau das Gegenteil. Sie waren zwar alle fast so jung wie Zehnjährige, aber sie spielten wie routinierte 30-Jährige. Wie schon im gesamten Turnier war die Ruhe zunächst auch gegen Kroatien Englands Erfolgsrezept.

Im Offensivspiel die Ruhe des Balles: Erneut traf England per Standardsituation, in der 5. Minute versenkte Kieran Trippier einen Freistoß direkt. Danach hatte Maguire noch eine große Kopfballchance nach einem Eckball. Neun der zwölf englischen Tore bei dieser WM fielen nach Standardsituationen.

Und im Defensivspiel die Ruhe der Nerven: Wieder und wieder klärte ein englischer Fuß einen kroatischen Angriff. Mal der von John Stones, mal der von Kyle Walker, mal der von Maguire. Die Dreierkette erschien so undurchbrechbar und emotionslos wie einst der Hadrianswall. Alles schien an ihr abzuprallen. Bis zu dieser 68. Minute: Ivan Perisic stahl sich erst an Trippier vorbei und dann auch noch an Walker und erzielte das 1:1. Es war das Ende der Ruhe der Nerven. Unsicherheit folgte auf Unsicherheit und in der Verlängerung machte Mario Mandzukic das 2:1.

Schließlich, ganz tief in der Nachspielzeit, half auch die Ruhe des Balles nichts mehr: Marcus Rashford schlug einen letzten Freistoß in den Strafraum, Kroatiens Dejan Lovren köpfte ihn raus, alle liefen aus dem Strafraum, der Schiedsrichter pfiff ab - und während die Kroaten einfach jubelnd weiterliefen, erfroren die Engländer an Ort und Stelle. Bis Southgate wenig später kam und sie wieder erweckte.

WM 2018: Ein letzter Umweg der Heimreise?

Southgates Weg mit dieser Mannschaft ist aber noch nicht vorbei, das weiß er und das wusste er auch schon vor dem Spiel, ganz egal, wie es ausgeht. "Dieses Team ist noch nicht einmal nahe an dem Level dran, auf dem es in Zukunft sein wird", sagte er. Und dieses Team, das schon zu den jüngsten des Turniers zählte, wird bald noch verstärkt von weiteren talentierten, jungen Spielern. Im vergangenen Jahr wurde England U17- sowie U20-Weltmeister und U19-Europameister. Das Nachwuchs-Triple.

"It's Coming Home", sangen die englischen Fans in den vergangenen Tagen und Wochen so gerne und so viel wie lange nicht mehr. Sie sangen von der Heimkehr des Fußballs und seines größten Titels in sein Mutterland. Diesmal kam er wieder nicht nach Hause, vielleicht aber auch: noch nicht. Es kann gut sein, dass die WM 2018 in einem Buch, das sich die englische Fußballgeschichte nennt, irgendwann als dieses Kapitel eingeht: "Der letzte Umweg der Heimreise."

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